BRÜSSEL (dpa-AFX) - Die EU-Schuldenvorgaben sollen angesichts der Ukraine-Krise ein Jahr länger ausgesetzt bleiben. Am Montag empfahl die EU-Kommission, den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt erst 2024 wieder vollständig in Kraft zu setzen. Grund seien hohe Unsicherheit wegen des Kriegs in der Ukraine, hohe Energiepreise und Engpässe bei den Lieferketten, teilte die Brüsseler Behörde mit. "Wir sind weit von der wirtschaftlichen Normalität entfernt", sagte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Bundesfinanzminister Christian Lindner schien nicht überzeugt. "Die Daten hätten andere Schlussfolgerungen erlaubt", sagte der FDP-Politiker am Rande eines Treffens der Finanz- und Wirtschaftsminister der Euroländer. Er nehme den Vorschlag zur Kenntnis. Gleichzeitig riet er den anderen Ländern, möglichst keinen Gebrauch davon zu machen, im kommenden Jahr wieder viele Schulden aufnehmen zu können. "Man kann abhängig werden von Staatsverschuldung, und wir müssen die Sucht nach immer mehr Verschuldung beenden, so schnell wie möglich", sagte Lindner. Deutschland werde von der allgemeinen Ausweichregel des Stabilitätspakts keinen Gebrauch machen.

Andere Länder zeigten sich hingegen für die Verlängerung offen. "Wir haben natürlich Verständnis in diesen außergewöhnlichen Zeiten, dass man solche Haushaltsregeln überdenken muss", sagte der österreichische Finanzminister Magnus Brunner. Nach 2024 müsse man aber zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik zurückkehren.

"Wir sind offen für den Vorschlag der Europäischen Kommission", sagte auch die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag. Die Niederlande sind sonst für ihre konservative Haltung in Finanzfragen bekannt. Südliche Länder wie Spanien und Portugal begrüßten den Schritt ebenfalls.

Die Schulden- und Defizitregeln waren während der Corona-Krise ausgesetzt worden und sollten eigentlich ab 2023 wieder gelten. Die Empfehlung der EU-Kommission wird nun den EU-Ländern vorgelegt, damit diese ihn billigen können. Die Behörde will zudem nach dem Sommer konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorlegen, die dann im Laufe des kommenden Jahres in Kraft treten könnte.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht vor, dass EU-Länder nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden aufnehmen. Haushaltsdefizite sollen bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedeckelt werden. Viele Länder überschreiten diese Grenzwerte, vor allem, weil sie sich während der Pandemie viel Geld liehen, um die Wirtschaft zu stützen.

In ihren jährlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen rät die EU-Kommission den Ländern nun, in die Energiewende und die Digitalisierung zu investieren. Gleichzeitig sollten sie ihre weiteren Ausgaben kontrollieren, insbesondere Staaten mit hohen Schulden wie Italien. "Wir schlagen keine Rückkehr zu unbegrenzten Ausgaben vor", sagte Gentiloni. Ziel sei es, von der universellen Unterstützung während der Pandemie zu gezielteren Maßnahmen überzugehen.

Die Kommission merkte an, dass auch Deutschland mit einem Schuldenstand von 69 Prozent des BIP im vergangenen Jahr und einem Defizit von 3,7 Prozent die Werte überschreitet. Moniert wurde wie in vorherigen Jahren auch der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands - also dass unter anderem mehr exportiert als importiert wird - und eine niedrige Investitionsrate. Dies schaffe ein Ungleichgewicht gegenüber anderen Ländern.

Die Kommission warnte zudem, dass die deutsche Wirtschaft besonders von dem Krieg in der Ukraine betroffen sei - etwa wegen der Abhängigkeit von russischem Gas und anderen Rohstoffen aus Russland und der Ukraine. "Die Verschärfung von Lieferketten-Engpässen und gestiegene Kosten und Preise bremsen das Wirtschaftswachstum", hieß es in dem Bericht. Deutschland müsse seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern.

Insgesamt hatte die EU-Kommission die Entwicklung der staatlichen Haushalte zuletzt positiv bewertet. Die durchschnittliche Schuldenquote werde in diesem Jahr auf 87 Prozent sinken - im Vergleich zu 90 Prozent im vergangenen Jahr, hieß es in der Frühlingsprognose der Behörde. Die durchschnittlichen Defizite sollen voraussichtlich von 4,7 Prozent auf 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken. Ihre Wachstumsprognose musste die EU-Kommission allerdings wegen des Kriegs in der Ukraine anpassen - von 4 auf 2,7 Prozent für dieses Jahr./dub/DP/stw