BERLIN (dpa-AFX) - Corona-Schock in Deutschland: Die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen binnen eines Tages hat erstmals den Wert von 10 000 überschritten. Die Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Donnerstagmorgen 11 287 neue Fälle. Der bisherige Höchstwert seit Beginn der Corona-Pandemie war am Samstag mit 7830 Neuinfektionen erreicht worden.

Bundesinnenminister Horst Seehofer zeigte sich alarmiert. Auf den Monat gerechnet gehe es um Hunderttausende Menschen, sagte der CSU-Politiker am Rand der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst in Potsdam. "Das wird jetzt sehr sichtbar, dass wir in einer wirklich ernsten, dramatischen Lage sind."

Angesichts des sich rapide entwickelnden Infektionsgeschehens appellierte RKI-Präsident Lothar Wieler an die Menschen, unbedingt die Corona-Regeln einzuhalten. Er warnte, es sei inzwischen möglich, dass sich das Virus regional unkontrolliert ausbreite. Man müsse davon ausgehen, dass es wieder mehr schwere Fälle und Tote geben werde.

Um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, seien Abstand halten, Hygienemaßnahmen und wo nötig das Tragen von Mund-Nase-Masken sowie Lüften, unbedingt zu beherzigen. Wieler empfahl, "in den Bereichen, wo Menschen zusammenkommen, insbesondere in Innenräumen", eine Maske zu tragen.

Auch die Sieben-Tage-Inzidenz - die Zahl der Corona-Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen einer Woche - stieg weiter. Das RKI gab sie am Donnerstag im Bundesschnitt mit 56,2 (Vortag 51,3) an.

Dänemark schloss wegen der Zuspitzung in Deutschland seine Grenzen für deutsche Urlauber. Für den Großteil der weiteren europäischen Staaten gelten solche Einreisebeschränkungen bereits seit Längerem. Für Einwohner Schleswig-Holsteins sollen Ausnahmen gelten.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dessen Corona-Infektion seit Mittwoch bekannt ist, geht es einem Ministeriumssprecher zufolge "den Umständen entsprechend gut". "Er hat weiterhin kein Fieber, zeigt aber Erkältungssymptome", teilte dieser am Donnerstag mit. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Spahns engerem Umfeld seien ebenfalls auf das Virus untersucht, aber negativ getestet worden. "Als Vorsichtsmaßnahme arbeiten sie vorläufig aus dem Homeoffice."

RKI-Chef Wieler sagte zu den Erkenntnissen zu Infektionsquellen: "Ein Großteil der Menschen steckt sich (...) im privaten Umfeld an." Es gehe dabei vor allem um Feiern mit körperlicher Nähe. Im Moment seien eher jüngere Menschen von Infektionen betroffen. Deshalb gebe es zur Zeit mehr leichtere Erkrankungen als im Frühjahr. Doch auch der Anteil der älteren Infizierten steige wieder. Im Vergleich zu privaten Treffen spielten derzeit Ausbrüche an Schulen sowie Infektionen durch die Nutzung von Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz oder nach Hotelübernachtungen eine geringere Rolle.

Bei Spahn ist den Ministeriumsinformationen zufolge unklar, wo er sich angesteckt haben könnte. Andere Mitglieder der Bundesregierung ließen sich inzwischen ebenfalls testen - mit negativem Ergebnis. Regelmäßige Tests gibt es vor allem für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) bei Auslandsreisen.

Familienministerin Franziska Giffey (SPD) unterzog sich nach Angaben einer Sprecherin bereits am Mittwoch einem Schnelltest, der negativ ausfiel. Außenminister Maas, der nicht im Kabinett war, wurde laut Auswärtigen Amt zuletzt am Dienstag im Rahmen des besonderen Hygiene- und Sicherheitskonzepts für Dienstreisen routinemäßig getestet, ebenfalls mit negativem Ergebnis.

Innenminister Seehofer sieht keinen Anlass für Quarantäne. Für ihn bestehe derzeit kein Verdacht einer Infektion, teilte ein Ministeriumssprecher mit. Dem Vernehmen nach wurde Seehofer getestet, nachdem Spahns Infektion bekannt wurde - negativ.

Andere Ministerien verwiesen auf Äußerungen des Regierungssprechers vom Mittwoch. Dieser hatte gesagt, dass das Kabinett als Ganzes nicht in Quarantäne müsse, weil der Sitzungssaal im Kanzleramt in puncto Infektionsschutz besonders "optimiert" sei und Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten würden. In der Bundesregierung wurde am Donnerstag betont, die Teilnehmer der Kabinettssitzung hielten sich an die Corona-Regeln. Sie würden mit Mund-Nase-Schutz zu ihren Stühlen gehen, die einzelnen Plätze lägen extra weit auseinander.

Auch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war nicht im Kabinett, weil er sich vorsorglich in häuslicher Quarantäne befindet. Ihm hatte zuvor die Corona-Warn-App eine Begegnung mit erhöhtem Risiko angezeigt. Auch Agrarministerin Julia Klöckner fehlte, sie war auf dem Rückweg vom EU-Agrarministertreffen in Luxemburg.

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach forderte in der "Rheinischen Post" (Donnerstag): "Es ist an der Zeit, dass die Kabinettsmitglieder regelmäßig auf Corona getestet werden." Regelmäßig bedeute möglichst alle zwei bis drei Tage.

Unterdessen geht die Debatte über eine stärkere Beteiligung des Bundestags an Corona-Entscheidungen weiter. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte den Fraktionen dazu Vorschläge gemacht. Diese stoßen insbesondere bei der Opposition auf Zustimmung.

"Das mindert und mildert die Probleme", sagte der FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Sein Kollege Jan Korte von der Linken sagte: "Ich sehe fast alle unsere Forderungen bestätigt." Buschmann forderte aber, zusätzlich die "epidemischen Notlage von nationaler Tragweite" wieder aufzuheben. Diese hatte der Bundestag im März festgestellt und damit der Bundesregierung erst das Recht eingeräumt, am Parlament vorbei auf dem Verordnungsweg über Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu entscheiden.

Die FDP-Fraktion legte am Donnerstag einen eigenen Antrag mit Maßnahmen vor, die dem Parlament wieder mehr Geltung verschaffen sollen. Gefordert wird zum Beispiel, die "weitreichenden und verfassungsrechtlich zweifelhaften Verordnungsermächtigungen" einzuschränken und auf eine zeitliche Entfristung zu verzichten./sk/DP/jha