Im Bann von Evergrande, Marktkommentar von Christopher Kalbhenn
Frankfurt (ots) - Die Entspannung in der Krise von China Evergrande währte nur
kurz. Zum Wochenschluss wurden die Finanzmärkte aufgeschreckt, als berichtet
wurde, dass Halter einer Dollaranleihe am Donnerstag fällige Zinsen doch nicht
ausgezahlt bekommen haben. Die Schieflage des chinesischen Immobilienentwicklers
wird noch eine ganze Weile für Nervosität sorgen, da sich die Lösung des
Problems angesichts der Größe des Unternehmens und der Komplexität der Lage
hinziehen wird.

Panik wäre aber ebenso völlig unangebracht wie der Vergleich mit dem
Lehman-Kollaps. Zwar können die Dimensionen - vor allem der Schuldenberg von
etwas mehr als 300 Mrd. Dollar - durchaus erschrecken. Aus vielerlei Gründen
kann Evergrande aber kein Lehman werden. Evergrande sei kein Finanzinstitut und
nicht so global vernetzt wie Lehman Brothers es gewesen sei, brachte es die DZ
Bank am Freitag auf den Punkt. Es droht keine globale Krise des Finanzsystems
mit der Folge eines Beinahe-Stillstandes der Weltwirtschaft. Er hätte
allerdings, so kurz nach dem Corona-Crash, überaus verheerende Konsequenzen.

Auch ein näherer Blick auf die Dimensionen zeigt, dass nicht der ganz große
Knall zu drohen scheint. Laut NN Investment Partners entsprechen die Schulden
von Evergrande gerade einmal 0,1 Prozent der ausstehenden Kredite der
chinesischen Banken, und die ausstehenden Anleihen des Immobilienentwicklers
entsprechen weniger als 0,5 Prozent des chinesischen Anleihemarktes. Ein Ausfall
sämtlicher Evergrande-Anleihen würde die Default-Rate des chinesischen
Anleihemarktes von 1,4 Prozent auf 2 Prozent erhöhen.

Harmlos ist die Schieflage des Unternehmens aber nicht. Sie könnte auf
Zulieferer, sofern diese auf ihren Rechnungen sitzenbleiben, sowie auf andere
Im­mobilienentwickler übergreifen. Chinesen müssen Vorkasse leisten, ehe ihre
Wohnung gebaut wird. Diese Vorauszahlungen sind unverzichtbarer Teil der
Finanzierung der Branche. Würden nun die Evergrande-Kunden weder ihre Wohnung
erhalten noch ihr Geld wiedersehen, könnte durch den entstehenden
Vertrauensverlust die gesamte Branche diese wichtige Finanzierungsquelle
verlieren und in Bedrängnis geraten. Weiterungen dieser Art würden das
chinesische Finanzsystem wahrscheinlich doch in Bedrängnis bringen. Doch so weit
werden es die chinesischen Behörden erst gar nicht kommen lassen. Gut möglich,
dass sie dabei auch an Lehman denken, denn wir wissen heute, dass die Rettung
der US-Bank zwar ebenso teuer wie fragwürdig gewesen wäre, aber bei weitem nicht
so kostspielig wie die Entscheidung, sie untergehen zu lassen. Das Handeln der
chinesischen Behörden zeigt bereits ihre Entschlossenheit, die Evergrande-Krise
nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, so etwa die Liquiditätsspritzen der
Zentralbank, die das Bankensystem absichern sollen. Zunächst geht es darum, den
Crash zu verhindern, um eine Lösung bzw. irgendeine Art Restrukturierung
auszuarbeiten. Manche Experten glauben, dass sie sogar bereits einen Plan in der
Schublade hat.

Zu glauben, dass die chinesischen Behörden vor allem die (ausländischen)
Bondholder im Blick haben, wäre aber illusorisch. Ihr Ziel besteht vor allem
darin, sozioökonomische Verwerfungen zu verhindern oder zumindest in Grenzen zu
halten. Sie hat damit wahrscheinlich - aus Sorge vor Unruhen - eher die
Evergrande-Kunden und die vielen unbezahlten kleinen Zulieferer, Arbeiter und
Handwerker im Blick. Es wird vermutet, dass andere Immobilienentwickler die
Anweisung erhalten werden, die Evergrande-Projekte fertigzustellen. Im Blick
haben die Behörden wahrscheinlich auch die vielen Chinesen, denen Evergrande
Wealth-Management-Produkte verkauft hat. Auch dies war im Übrigen eine
Finanzierungsquelle, und sie erinnert auf fatale Weise an die
Lehman-Zertifikate.

Angesichts ihres starken Gewichts mit einem direkten und indirekten Anteil am
BIP von je nach Schätzung zwischen 20 und 30 Prozent werden die Behörden auch
darauf aus sein, die Immobilienbranche nicht allzu stark abrutschen zu lassen.
Ein Ansatz könnte darin bestehen, dass sie nach ihren Maßnahmen zur
Eindämmung
des kreditfinanzierten Booms der Immobilienbranche, die dieser stark zusetzen,
nun vorübergehend die Leine wieder etwas lockerer lassen. Dennoch ist zu
befürchten, dass Evergrande dafür sorgen wird, dass sich die Verlangsamung des
chinesischen Wirtschaftswachstums ein Stück weit verstärkt. Das werden auch
hiesige Unternehmen mit hohem Anteil des China-Geschäfts zu spüren bekommen.

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