FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Mit der Flucht in sichere Häfen legen bonitätsstarke Staatsanleihen zu. Unternehmenstitel sind nicht gefragt. Bei russischen Papieren steigt die Furcht vor Zahlungsausfällen.
4. März 2022. Frankfurt (Börse Frankfurt). Der Krieg um die Ukraine und Angst vor einer Atom-Krise lassen Anleger*innen erneut in als sicher empfundene Anlagen flüchten. In der Nacht hatten russische Truppen Europas größtes Atomkraftwerk im Südosten der Ukraine beschossen und zum Teil in Brand gesetzt. Nach Angaben der Ukraine sei der Brand gelöscht und keine Veränderung der Strahlung messbar. An den Aktienmärkten sanken die Kurse weltweit.
Negative Rendite zehnjähriger Bundesanleihen
Auch deutsche Staatsanleihen bleiben angesichts des Kriegsgeschehens gefragt. Der richtungsweisende Bund-Future steigt auf 169,76 Punkte. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihen ist auf null gefallen, im Wochenverlauf war sie im Minus. Zur Wochenmitte hatte die Nachricht von einem Inflationshoch in der Eurozone zunächst Verkäufe ausgelöst.
"Der Krieg bleibt an den Finanzmärkten der Mittelpunkt des Geschehens, deshalb bleibt die Nachfrage nach Anlagen, die als sicher empfunden werden, bei niedrigen Volumen und hoher Volatilität hoch", fasst Arthur Brunner von der ICF Bank die Stimmung zusammen. Das belaste die Renditen.
"Verkäufe prägen den Handel; die Nerven liegen aber nicht so blank wie zu Beginn der Pandemie im März 2020", erklärt Gregor Daniel von der Walter Ludwig Wertpapierhandelsbank . Damals hätten die meisten Marktteilnehmer unlimitiert in Panik verkauft. Im Vergleich dazu laufe der Handel derzeit den Umständen besonnen.
"Die Anleger sind stark verunsichert, Anleihen sind großflächig und in allen Laufzeitbändern unter Druck, die Liquidität ist gering, es gibt keine Käufer, der Sekundärmarkt kommt quasi zum Erliegen", berichtet Tim Oechsner von der Steubing AG vom Frankfurter Parkett. "Alle richten ihre Aufmerksamkeit auf die Ukraine und die Ölpreise." Allerdings würden auch die nächsten Schritte der Notenbanken bedacht: So dürften die anstehenden Inflationsprognosen der EZB den Krieg in der Ukraine und die neuen Teuerungsraten berücksichtigen.
Stagflationssorgen: Setzt die EZB ihre lockere Geldpolitik trotz der Inflation fort?
Zwar steige die Inflation auf Grund stark steigender Rohstoffpreise weiter, was für deutliche Zinserhöhungen spräche, doch die Erwartungen an die Zinspolitik seien nicht mehr so hoch wie noch vor wenigen Wochen, wie Brunner ergänzt. "Die Marktteilnehmer erwarten, dass die EZB ihre lockere Geldpolitik trotz der steigenden Inflation fortsetzt. In der Folge steigen die Kurse von Anleihen der Peripherie-Staaten", sagt Brunner. Mit Blick auf die Ausschläge bei Rohstoffpreisen ergänzt er: "Es ist zu befürchten, dass sich die Inflation einnistet, auch eine Stagflation ist nicht mehr ausgeschlossen."
US-Konjunktur-Pessimismus kaum gerechtfertigt
Die Deutsche Bank prognostiziert mögliche Kursverluste bei US-Staatstiteln: "Die Kurse von US-Staatsanleihen könnten bald wieder unter Druck geraten, obwohl sie bei Anlegern momentan als sicherer Hafen' stark gefragt sind." Denn die US-Notenbank dürfte an ihrer Zinswende festhalten und bald ihren Bestand an zuvor erworbenen Anleihen abschmelzen. Würden auslaufende Bonds nicht durch neue ersetzt, entfalle ein wichtiger Käufer am Markt für US-Treasuries. Die FED habe gut 60 Prozent der seit Beginn der Corona-Pandemie begebenen Staatsanleihen im Gesamtvolumen von 5,4 Billionen US-Dollar erworben. Außerdem spreche die aktuell sehr niedrige inflationsbereinigte Rendite - auch "reale Rendite" - zehnjähriger US-Staatsanleihen von minus 4,2 Prozent für perspektivisch steigende Renditen in den USA. Ähnlich tief sei die Realverzinsung in den Ölpreiskrisen der 1970er- und 1980er-Jahre gewesen.
Fazit der Deutschen Bank: "Angesichts der zu erwartenden soliden Wachstumsraten in den USA ist der in den Treasury-Kursen eingepreiste konjunkturelle Pessimismus kaum gerechtfertigt."
Staatspapiere begehrt
Am Anleihemarkt sind nach Angaben von Brunner fast ausschließlich Staatspapiere gefragt. Staaten würden vor allem bestehende Anleihen aufstocken, darunter Deutschland, Spanien und Großbritannien. Die Zinsen seien sehr niedrig. "Die Aufstockungen sind im Plan und finden guten Absatz", erklärt der Anleihen-Experte in Frankfurt.
Eine mögliche Zahlungsunfähigkeit Russlands beschäftigt Besitzer russischer Anleihen. Währungsreserven des Landes sind zu einem Teil eingefroren, Rating-Agenturen haben die Kreditwürdigkeit Russlands massiv herabgestuft. Russische Anleihen sind nach Auskunft von Brunner seit Mittwoch in Deutschland nicht mehr handelbar. Eine Kriegsanleihe der Ukraine wurde mit 11 Prozent Zinsen auf dem heimischen Markt platziert, gegen 273 Millionen US-Dollar. "Hier zu Lande ist das Papier nicht erwerbbar."
Kaum Neuemissionen von Unternehmen
Das Angebot an Neuemissionen von Unternehmensanleihen lässt weiter nach. Oechsner ergänzt: "Der Primärmarkt ist komplett zum Erliegen gekommen." Es gäbe keine Käufer. "Die Anleger sind absolut verunsichert."
Auch im Sekundärmarkt: "Verkäufe überwiegen", stellt Daniel weiter fest. "In dem Maße, wie die Unsicherheit zunimmt, nehmen die Umsätze ab." Selbst Titel, die vor wenigen Tagen noch als Schnäppchen galten, würden nicht gekauft.
Kurseinbruch bei Ekosem-Anleihe
Einige Kursreaktionen signalisierten nach Einschätzung von Daniel bereits, dass die Marktteilnehmer nicht mehr mit einer regulären Rückzahlung rechnen: So seien Ekosem-Anleihen (DE000A2YNR08) (DE000A1R0RZ5) im freien Fall mit Kurseinbrüchen auf Wochensicht von 45 Prozent bzw. 50 Prozent. Daniel verweist auf Nachrichten, worauf das Unternehmen, seine Geschäftsprognose für das Jahr 2022 aussetzt: Es gebe zu viele Unwägbarkeiten für das operative Geschäft und die Finanzierungsmöglichkeiten auf Grund der Sanktionen gegen Russland. In einem Brief an die Mitarbeiter*innen hatte der Vorstand auf die Risiken durch Abwertung des Rubel und die Anhebung der Zinsen hingewiesen.
Oechsner weist auf Abwicklungsprobleme hin bei Titeln mit russischem Hintergrund: "Daher kann es bei diesen Wertpapieren zu Liquiditätseinschränkungen im Handel und auch zu Handelsaussetzungen kommen."
Brunner sieht vereinzelt Nachfrage nach Papieren der PREOS Global Real Estate & Technology mit Laufzeit 2024, Kupon 7,5 Prozent (DE000A254NA6). Brunner wies auf Berichte hin, wonach die Muttergesellschaft publity AG ihre Pläne zur Aufnahme eines neuen Großaktionärs präzisiert hat.
von: Antje Erhard
4. März 2022, © Deutsche Börse AG
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)