FRANKFURT (awp international) - Die Europäische Zentralbank (EZB) muss auf ihrer Sitzung an diesem Donnerstag auf immer grössere Herausforderungen reagieren. Ökonomen erwarten, dass wegen der hohen Inflation die Normalisierung der Geldpolitik in der Eurozone wie angekündigt fortgesetzt wird. Angesichts der hohen Unsicherheit, die vom Ukraine-Krieg ausgeht, dürfte die EZB aber weiter eher vorsichtig und datenabhängig vorgehen.

Auf ihrer jüngsten Zinssitzung am 10. März hatte die EZB auf die hohe Inflation reagiert und einen rascheren Ausstieg aus ihren monatlichen Anleihekäufen beschlossen. Im dritten Quartal könnten demnach die Käufe frischer Wertpapiere ganz beendet werden, abhängig von der Lage. Erst nach dem Ende der Nettokäufe will die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen.

An den Finanzmärkten wird zunehmend erwartet, dass die EZB ihren Leitzins zum Jahresende anheben wird. Der sogenannte Einlagesatz - der für das Parken von Geld bei der EZB erhoben wird - liegt seit Jahren bei minus 0,5 Prozent. Der Leitzins verharrt auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Die US-Notenbank und die Bank of England sind hingegen bereits auf einen Zinserhöhungskurs eingeschwenkt.

Der Druck auf die EZB ist zuletzt immer grösser geworden. So ist die Inflation in der Eurozone im März mit 7,5 Prozent auf den höchsten Stand seit Einführung der Gemeinschaftswährung gestiegen. Vor allem die gestiegenen Energiepreise treiben die Preise nach oben. Die EZB strebt auf mittlere Sicht lediglich eine Rate von 2 Prozent an.

Die Inflationsentwicklung spricht also eindeutig für steigende Leitzinsen. Dem stehen aber wachsende Konjunktursorgen entgegen. Durch den Ukraine-Krieg werden die Lieferketten belastet und die Verunsicherung der Wirtschaftsteilnehmer nimmt zu. Es droht ein Embargo für Energie aus Russland. Zusätzlich belastet die harte Corona-Politik in China die Weltkonjunktur. Die Lockdowns in China seien der "Sargnagel" für die angeschlagenen Lieferketten, kommentierte beispielsweise Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank.

Zuletzt hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde eine Leitzinserhöhung in diesem Jahr nicht mehr ausgeschlossen. Auch andere EZB-Vertreter äusserten sich in diese Richtung. "Allerdings bleibt unsicher, ob dieser aktuellen steigenden Bereitschaft zu Zinsanhebungen später im Jahr Taten folgen werden", schreibt Commerzbank-Ökonom Michael Schubert. Noch gingen die Ratsmitglieder davon aus, dass die Wirtschaft trotz der deutlich höheren Energiepreise weiter kontinuierlich wachsen werde. "Allerdings wäre beispielsweise im Falle eines vollständigen Boykotts russischer Energielieferungen eine Rezession wohl unvermeidlich", erwartet Schubert.

Neue Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung werden nicht veröffentlicht. Auf ihrer letzten Sitzung hatte die Europäische Zentralbank eine erste Einschätzung vorgenommen, wie sich der Krieg in der Ukraine auf den Euroraum auswirken dürfte. "Es zeichnet sich ab, dass sie dabei sowohl den resultierenden Anstieg der Inflation als auch den dämpfenden Einfluss auf das Wirtschaftswachstum unterschätzt hat", schreibt die Dekabank. "Auf der Pressekonferenz dürfte thematisiert werden, welche Implikationen sich daraus für die Geldpolitik ergeben."/jsl/la/jha/