Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Im Vorfeld der Zinsentscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) am frühen Nachmittag herrscht ungewöhnlich große Unsicherheit über den kurzfristigen geldpolitischen Kurs der Zentralbank. Marktteilnehmer gehen offenbar davon aus, dass die EZB ihre Zinsen unter dem Eindruck der Bankenturbulenzen weniger stark als im Februar angekündigt anheben wird. Volkswirte rechnen dagegen überwiegend mit einer Umsetzung des vorangekündigten Beschlusses.

Der führende ESTR Forward (22. März) liegt gegen 10.30 Uhr bei 2,77 Prozent, 37 Basispunkte über dem aktuellen ESTR. Er preist damit einen Zinsschritt von nur 25 Basispunkten voll ein. Der EZB-Rat hatte im Februar einen Zinsschritt von 50 Basispunkten in Aussicht gestellt, und laut einer Reuters-Meldung von Mittwoch waren die Ratsmitglieder bis dahin auch der Meinung, dass man zu diesem Beschluss aus Reputationsgründen stehen müsse.


   Hilfsersuchen von Credit Suisse könnte Lage verändert haben 

In der Zwischenzeit jedoch hat die Schweizerische Nationalbank der Credit Suisse Liquiditätshilfe zugesichert, und diese hat gleich um 50 Milliarden Euro gebeten. Dehnen sich die damit bisher auf die USA beschränkten Turbulenzen auf den europäischen Bankenmarkt aus? Analysten verneinen das überwiegend.

"Indikatoren, welche systemischen Stress im Finanzsystem messen, haben zwar angeschlagen, zeigen bisher aber nur moderat erhöhten Stress an", schrieben Analysten des Vermögensverwaltern DWS am Morgen in einem Kommentar. Sie verwiesen auf den Composite Indicator of Systemic Stress (für die Eurozone) und der Office of Financial Research (OFR) Financial Stress Index (für die USA). Das heißt: Die Probleme sind ihrer Einschätzung nach individueller Natur und prognostizieren eine Zinserhöhung von 50 Basispunkten.

Allianz-Chefvolkswirt Ludovic Subran verweist darauf, dass die europäischen Banken liquider als ihre US-Konkurrenten seien, niedrigere Bewertungen aufwiesen und auch weniger Inkongruenzen zwischen Aktiva und Passiva. "Sie halten mehr als 3 Billionen Euro an Überliquidität bei der Zentralbank, wobei immer noch ein hoher Anteil an unbelasteten Vermögenswerten für den Zugang zu Zentralbankgeld genutzt werden könnte, falls es zu Finanzierungsengpässen kommen sollte", erläuterte der Ökonom. Auch er prognostiziert 50 Basispunkte.


   Rabobank: EZB erhöht um 50 Basispunkte 

Auch die Analysten der Rabobank rechnen mit 50 Basispunkten und gehen davon aus, dass die EZB von Liquiditätsmaßnahmen vorerst absehen wird. Sie wollen zwar nicht ausschließen, dass die EZB im Vorfeld des Auslaufens eines großen langfristigen TLTRO-Geschäfts im Juni einen zusätzlichen Tender ausschreibt, meinen aber: "Die Vorankündigung einer solchen Fazilität zum jetzigen Zeitpunkt könnte zwar beruhigend wirken, was die Verfügbarkeit von Liquidität angeht, würde aber die Gefahr mit sich bringen, dass die Besorgnis über die Gesundheit des Bankensektors zunimmt."

Lorenzo Bini Smaghi, Chairman von Societe Generale und ehemals EZB-Direktor, hatte der EZB am Mittwoch von einer Zinserhöhung um 50 Basispunkte abgeraten. In einem Interview mit der Börsen-Zeitung plädierte der Italiener zudem für eine bessere Liquiditätsversorgung der Banken und eine schärfere Regulierung kleinerer Institute.

An der Erhöhung um 50 Basispunkte festzuhalten, als ob nichts geschehen wäre, bedeutet, eine härtere Gangart einzuschlagen als bisher angenommen", sagte Bini Smaghi dem Blatt. Dies könnte riskant sein und zu weiterer Instabilität führen. "Je schneller sich die Märkte stabilisieren, desto eher kann die EZB zu ihrer auf die Senkung der Inflation ausgerichteten Politik zurückkehren", argumentierte er.


   Deutsche Bank: Es kommen nur 25 Basispunkte 

Die Analysten der Deutschen Bank rechnen für den Nachmittag mit einer Zinserhöhung von nur 25 Basispunkten.

Der EZB-Rat macht um 14.15 Uhr seine geldpolitischen Entscheidungen bekannt. Gegen 14.45 Uhr beginnt die Pressekonferenz mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde.

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DJG/hab/smh

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March 16, 2023 05:55 ET (09:55 GMT)