Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte seine Geldpolitik am 27. Oktober mit unvermindertem Tempo straffen. 41 der 45 von Dow Jones Newswires befragten Volkswirte erwarten, dass Die Währungshüter die Leitzinsen um 75 Basispunkte anheben werden. Die EZB dürfte zudem weitere Zinserhöhungen in Aussicht stellen, aber sich weder zur Höhe des so genannten neutralen Zinses äußern, noch zum voraussichtlichen Endpunkt des aktuellen Zinserhöhungszyklus.

Möglicherweise kommt auch schon die aktive Bilanzverkleinerung aufs Tapet: Wenn nicht im geldpolitischen Statement, dann in den Einleitenden Bemerkungen von EZB-Präsidentin Christine Lagarde oder in ihrer Pressekonferenz. Die geldpolitischen Entscheidungen werden am Donnerstag um 14.15 Uhr bekannt gegeben. Gegen 14.45 Uhr beginnt die Pressekonferenz.


  Folgende wichtige Punkte dürfte das geldpolitische Statement enthalten: 

1. Zinsen steigen um 75 Basispunkte

Im September ist die Inflation erneut höher als erwartet gewesen, und bei der besonders beachteten Kerninflation fiel die Überraschung noch deutlicher aus. Entsprechend unverblümt haben EZB-Ratsmitglieder in den vergangenen Wochen ihre Bereitschaft angedeutet, die Zinsen erneut um 75 Basispunkte anzuheben. Entsprechend erwarten nahezu alle Analysten einen sehr großen Zinsschritt.

Der Hauptrefinanzierungssatz läge damit bei 2,00 Prozent, also in etwa auf einem Niveau, wo er die Wirtschaft weder stimuliert noch bremst. Allerdings ist dieser Satz nur nominell der Leitzins. Der tatsächliche Schlüsselsatz ist wegen der sehr hohen Liquidität im Bankensystem der Satz für Bankeinlagen, der auf 1,50 Prozent steigen würde. Die EZB dürfte betonen, dass sie ihre geldpolitischen Entscheidungen "von Sitzung zu Sitzung" treffen wird, zugleich aber weitere Zinserhöhungen in Aussicht stellen.

2. EZB nimmt den Banken ihre risikolosen TLTRO-Gewinne

Den Abbau dieser Überliquidität wird die EZB ebenfalls angehen wollen, und sie dürfte damit in dieser Woche beginnen. Die meisten Analysten erwarten, dass die Zentralbank den Banken einen Anreiz nehmen wird, weiterhin milliardenschwere Einlagen bei der EZB zu halten, indem sie die sehr attraktive Verzinsung reduziert. Das dürfte die Institute zu einer vorfristigen Rückzahlung ihrer sehr langfristige Repo-Geschäfte (TLTRO) veranlassen und die Bilanzsumme "passiv" sinken lassen. Analysten erwarten überwiegend, dass die EZB im Rahmen eines Staffelzinses den größten Teil dieser Gewinne streichen wird.

3. Ändert die EZB die Kommunikation zur APP-Wiederanlage?

Möglicherweise verschafft das TLTRO-Manöver der EZB auch etwas Spielraum beim aktiven Abbau eines noch größeren Bilanzpostens, ihrer Anleihebestände. Das Thema ist prinzipiell auf der Tagesordnung, und manche Analysten meinen, dass die EZB ihre Kommunikation zur Wiederanlage von Tilgungsbeträgen fällig gewordener Anleihen im Rahmen des APP-Programms schon am Donnerstag anpassen wird. Derzeit ist diese Wiederanlage nicht befristet.

4. PEPP-Wiederanlagefrist vorerst unverändert

Die EZB dürfte betonen, dass die Tilgungsbeträge von unter dem Pandemiekaufprogramm PEPP erworbenen Anleihen so investiert werden können, dass sie Risiken für die Transmission der Geldpolitik entgegenwirken. Sie kann damit vor allem Bestände an deutschen und niederländischen Staatsanleihen zugunsten italienischer Papiere abbauen. Das hat sie im Juni getan, im August und September dagegen nicht. Eine Wiederanlage wird bisher bis wenigstens Ende 2024 in Aussicht gestellt, und daran dürfte sich vorerst nichts ändern.

Neue Stabsprojektionen zu Inflation und Wachstum kommen erst im Dezember, aber dem EZB-Rat liegen aktuelle Prognosen der Professional Forecasters vor, die am Freitag veröffentlicht werden. Die von Dow Jones Newswires befragten Volkswirte erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Euroraums 2022 um 3,0 (Juni-Umfrage: 2,8) Prozent steigen wird. Für 2023 wird nun jedoch ein BIP-Rückgang von 0,1 Prozent prognostiziert, nachdem im Juni noch ein Plus von 0,3 Prozent vorausgesagt worden war. Die Inflationsrate sehen die Experten 2022 und 2023 bei 8,3 (8,1) und 5,6 (4,8) Prozent.

Für die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen werden auf Sicht von drei, sechs und zwölf Monaten 2,30 (1,50), 2,30 (1,58) und 2,30 (1,60) Prozent prognostiziert und für den Euro Wechselkurse von 0,97 (1,00), 0,98 (1,03) und 1,04 (1,07) US-Dollar.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde dürfte in ihrem Statement erklären, dass weitere Zinsanhebungen voraussichtlich angemessen seien, sie dürfte aber auf genauere Aussagen verzichten.

Die von Dow Jones Newswires befragten Volkswirte sehen den Einlagensatz am Jahresende bei 2,00 Prozent, was einen Zinsschritt von 50 Basispunkten im Dezember impliziert. Bereits im März dürfte dieser Zins ihrer Einschätzung nach seinen vorläufigen Endpunkt von 2,50 Prozent erreicht haben. Der Hauptrefinanzierungssatz dürfte dann bei 3,00 Prozent stehen und - ebenso wie der Einlagensatz - mindestens bis Juni unverändert bleiben.

ING-Volkswirt Peter Vanden Houte ist etwas vorsichtiger als der Durchschnitt seiner Kollegen - er rechnet mit einer "terminal rate" von nur 2,25 Prozent, die im Februar 2023 erreicht sein soll. Der Analyst begründet das mit der Erwartung, dass die Inflation ab dem ersten Quartal sinken und die Rezession tiefer als von der EZB derzeit erwartet ausfallen wird.

Hinsichtlich der Bilanzverkleinerung gibt es noch kein klares Bild: Die Prognosen schwanken zwischen dem 1. Quartal 2023 (Martin Wolburg von Generali Investments) und 2024 (Uta Pock von der Volksbank Wien).

Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com

DJG/hab/jhe

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October 26, 2022 23:55 ET (03:55 GMT)