Von Pierre Briançon

PARIS (Dow Jones)-Zum Gegenwind für die Weltwirtschaft gesellt sich ein weiteres Risiko - ein geopolitisches, das noch vor wenigen Monaten nicht absehbar war. Wladimir Putin hat rund 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, und die westlichen Verbündeten versuchen alles, um den russischen Präsidenten von einer Invasion in seinem Nachbarland abzubringen. Diplomatie, unter Leitung der USA, ist vorerst das Gebot der Stunde.

Aber sowohl Washington als auch Europa haben Russland für den Fall eines Einmarsches mit schweren Sanktionen gedroht. Im Moment gibt es noch viele unbekannte Variablen, aber wenn sie tatsächlich eintreten, könnten sowohl ein militärischer Konflikt als auch die Sanktionen ernsthafte Auswirkungen auf die Weltwirtschaft mit sich bringen.

Die globalen Märkte scheinen sich im Moment keine Sorgen zu machen. Das liegt zum Teil daran, dass "die Märkte dazu neigen, extreme Ereignisse nicht einzupreisen, insbesondere wenn sie militärischer Natur sind", so Paul Donovan, Chefökonom der Schweizer Bank UBS. Und einige Anleger könnten auch der Meinung sein, dass die wirtschaftlichen Folgen des Konflikts auf die Region beschränkt blieben - selbst wenn die Auswirkungen auf die Ukraine enorm wären und Russland wegen der Sanktionen erheblichen Schaden erlitte.


   Risiko der Selbstbeschädigung 

Das eigentliche Risiko besteht jedoch darin, dass die Sanktionen, um die von den USA und Europa versprochene Härte zu erreichen, auch zu einer Selbstbeschädigung führten. Dies könnte geschehen, wenn die beiden bisher von den westlichen Regierungen genannten Hauptinstrumente zum Einsatz kommen: Ein Boykott russischer Gaslieferungen nach Europa, wobei die für Moskau wichtige Nord-Stream-2-Pipeline auf unbestimmte Zeit verschoben würde.

Außerdem ginge es um einen Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Netz, das von 11.000 Banken in aller Welt für schnelle und sichere Geldüberweisungen genutzt wird.

Der Einsatz dieser beiden Wirtschaftswaffen wird von den westlichen Verbündeten nicht einhellig befürwortet. Es heißt jedoch, dass Washington auf ein umfassendes Paket drängt. Es besteht kein Zweifel, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft hart treffen könnten. Die letzten sieben Jahre haben gezeigt, dass Maßnahmen zur Einschränkung der wirtschaftlichen Beziehungen und Finanzströme zwischen dem Rest der Welt und Russland für Moskau einen hohen Preis haben.

Anders Åslund und Maria Snegovaya, zwei Wirtschaftswissenschaftler am Eurasia Center des Atlantic Council, haben gezeigt, dass Sanktionen Biss haben. So dürften die nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Ukraine-Konflikts im Jahr 2014 verhängten Sanktionen das Wachstum seither um jährlich 2,5 Prozent bis 3 Prozent verringert haben - auf durchschnittlich magere 0,3 Prozent.


   Europäer machen viele Geschäfte mit Russland 

Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Bankensystem könnte unbeabsichtigte Auswirkungen haben. Maria Shagina, Mitarbeiterin des Zentrums für Osteuropastudien in Zürich, schätzt, dass eine solche Maßnahme "verheerend wäre, vor allem kurzfristig". Sie würde "alle internationalen Transaktionen beenden, Währungsvolatilität auslösen und massive Kapitalabflüsse verursachen."

Russland könnte die Auswirkungen zwar abmildern, da es in den vergangenen Jahren ein Finanznachrichtensystem entwickelt hat, das SWIFT nachempfunden ist. Es ist jedoch noch unbedeutend, unvollkommen und wird hauptsächlich von russischen Banken genutzt.

Eine Abschottung Russlands würde jedoch im Gegenzug Ländern wie Deutschland schaden, die in großem Umfang mit Moskau Geschäfte machen. Russland ist ein wichtiger Handelspartner der EU, und viele ihrer Mitglieder würden es sich zweimal überlegen, bevor sie das auslösen, was laut einem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten einer "nuklearen Option" gleichkäme.

Ein weiteres Risiko besteht darin, dass das in Belgien ansässige SWIFT, ein internationales Abkommen über ein technisches Instrument für das globale Finanzwesen, als eine politisierte Institution erschiene. In ihr hätten dann offenbar die USA das Sagen, was andere Länder wie China dazu veranlassen könnte, nach alternativen Instrumenten zu suchen.


   Bisher schreckten Sanktionen Moskau nicht sonderlich ab 

Donovan von UBS merkt an, dass die Märkte zwar historisch gesehen dazu neigen, "Big Tail"-Ereignisse - also sehr unwahrscheinliche Ereignisse - zu vernachlässigen, aber sie reagieren auf tatsächliche Fakten. Im Falle eines Konflikts würden sich die Anleger auf die Energielieferungen aus Russland und die Lebensmittelexporte aus der Ukraine konzentrieren.

Das traditionelle Ziel von Wirtschaftssanktionen besteht zunächst darin, politische Veränderungen zu erzwingen sowie von ähnlichen Handlungen in der Zukunft abzuschrecken, und erst an zweiter Stelle stehen finanzielle Strafen. Die Sanktionen im Jahr 2014 und seither haben Russland kaum abgeschreckt, aber sie hatten ihren Preis für die Wirtschaft des Landes.

Im Moment erwarten die Verbündeten, dass die bloße Androhung größerer Schmerzen diesmal eine starke Abschreckung sein wird. Aber, so ein hochrangiger EU-Beamter, der nicht namentlich genannt werden möchte, "viele Regierungen versuchen derzeit, die Grenze abzuschätzen, jenseits derer Sanktionen, die Schmerzen zufügen sollen, dazu führen, dass sie sich selbst schaden."

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DJG/DJN/axw/smh

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January 17, 2022 10:09 ET (15:09 GMT)