Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Die heutige Inflation mag vorübergehend sein. Aber was und wie lange "vorübergehend" wirklich heißt, bereitet den Anlegern zunehmend Kopfzerbrechen. Selbst auf die Gefahr intellektueller Schwäche hin scheinen sie sich mehr Sorgen über die nächsten fünf als über die nächsten zehn Jahre zu machen.

Die Strompreise erreichen in vielen europäischen Ländern neue Höchststände und machen die Inflation zu einem Schlagzeilen-Thema. Nach den Ende der Vorwoche veröffentlichten offiziellen Daten lag der Anstieg der Verbraucherpreise in der Eurozone im August bei insgesamt 3 Prozent und damit deutlich höher als im Juli. In den USA sind die Preise sogar noch stärker gestiegen, obwohl die Daten für August darauf hindeuten, dass sie ihren Höhepunkt erreicht haben könnten.

Die alarmierenden Schlagzeilen stehen nicht im Widerspruch zu den Behauptungen der US-Notenbank Fed und anderer Zentralbanken, wonach der Preisanstieg auf Einmaleffekte zurückzuführen sei und eine Zinserhöhung, um den Trend zu brechen, daher ein Fehler wäre. Fast die Hälfte des Anstiegs des Verbraucherpreisindexes der Eurozone im August war den volatilen Energiepreisen geschuldet. Die europäischen Erdgasvorräte sind erschöpft, während der Mangel an Wind die Abhängigkeit von gasgeneriertem Strom erhöht hat. Und die himmelhochstürmenden Gaspreise wirken sich auch in den USA aus.


   Fed verspricht keine Wiederkehr der Lohn-Preis-Spirale der 1970er 

Analyst Michael Pond von Barclays sieht das Problem darin, dass "der Markt anscheinend eine ganz andere Bedeutung von 'vorübergehend' hat als die Fed und professionelle Prognostiker". Nach seinen Berechnungen deuten die Preise von Swap-Kontrakten, die Anleger gegen Inflation versichern, sowie die Preise von inflationsgebundenen Anleihen darauf hin, dass das jährliche Wachstum des Verbraucherpreisindex in den USA bis 2025 bei oder über 2,6 Prozent liegt.

Die marktbasierten Inflationserwartungen in der Eurozone und in Großbritannien sind ebenfalls sprunghaft angestiegen, und zwar nicht nur für kurze Laufzeiten, sondern bis hin zu Fünfjahreskontrakten.

Dies steht im Gegensatz zu den Prognosen von Wall-Street-Volkswirten, die davon ausgehen, dass sich die Inflation in einigen Monaten wieder annähernd normalisiert. Die Entwicklung der Inflationsindikatoren an den Märkten, die zehn Jahre in die Zukunft blicken und die ersten fünf Jahre ausklammern, war jedoch wesentlich geringer, vor allem in den USA. Dies deutet darauf hin, dass die Anleger der Fed die Zusicherung abkaufen, wonach es nicht zu einer Inflationsspirale im Stil der 1970er Jahre kommt, als Preise und Löhne im Gleichschritt nach oben marschiert waren.


   Inflationstreiber auf der Angebotsseite 

Das erscheint widersprüchlich. Wenn die Märkte davon ausgehen, dass die wirtschaftlichen Kräfte die Inflation über Jahre hinweg hochhalten, nachdem die einmaligen Effekte verpufft sind, wie kann es dann keine längerfristigen Auswirkungen geben?

Die Erklärung dafür könnte darin liegen, dass die Anleger das Jahr damit verbracht haben, sich an dem Versprechen den Mund zu verbrennen, dass die Inflationsspitze schnell wieder abklingt. Auf der Angebotsseite sind schließlich immer wieder Probleme aufgetaucht, die die Produktion beeinträchtigt haben.

Neben der Gasverknappung gibt es einen Halbleiterengpass, der sich immer weiter verlängert, eine Hausse bei Nahrungsmitteln sowie politische Probleme bei Rohstoffen wie Aluminium. Darüber hinaus deuten die Charterraten für Massengutfrachter darauf hin, dass die Frachtkosten deutlich über dem Niveau vor Corona liegen.


   Engpässe sollen bis 2022 im Griff sein 

Es wird zwar erwartet, dass diese Probleme bis Ende 2022 verschwinden. Das Problem besteht nur darin, dass Ökonomen nicht vorhersagen können, wann die Entwicklung einiger Preise die Entwicklung aller Preise mit sich zieht, und sich die Anleger gegen den schlimmsten Fall absichern müssen. Sie haben das ganze Jahr über eine Prämie für den Inflationsschutz gezahlt. Hinzu kommt, "dass zu Beginn eines Aufschwungs immer ein gewisser Überschwang auf dem Inflationsmarkt herrscht", so Jonathan Baltora, Fondsmanager bei AXA Investment Managers.

Da dieser Überschwang mit der Zeit abklingt, dürften einige Händler von der Diskrepanz zwischen fünfjährigen und längerfristigen Inflationspapieren profitieren.

Die wichtigere Lektion ist jedoch, dass die Inflation lange Zeit erhöht bleiben und dennoch durch branchenspezifische, vorübergehende Faktoren verursacht werden kann. Das machte eine straffere Geldpolitik dann zu einer unnötig unscharfen politischen Reaktion.

Anleger, die sich auf Zinsprognosen verlassen, sollten sich daran erinnern: Wenn der Verbraucherpreisindex hoch ist, können die Zentralbanken mit ihren Zinsen trotzdem noch tiefer gehen.

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DJG/DJN/axw/smh

(END) Dow Jones Newswires

September 20, 2021 10:32 ET (14:32 GMT)