Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)-"Warum muss die Inflation bei 2 Prozent liegen?" Diese Frage beschäftigte die Zentralbanker, als die Inflation noch hartnäckig unter ihrem Lieblingsziel lag. Heute ist diese Frage viel sinnvoller. In der vergangenen Woche deutete eine Reihe von Daten darauf hin, dass die Inflation endlich einen Abwärtstrend eingeschlagen hat. Der US-Preisindex für persönliche Konsumausgaben ohne Lebensmittel und Energie - das bevorzugte Inflationsmaß der US-Notenbank Fed - verzeichnete den zweitgeringsten monatlichen Anstieg in diesem Jahr. Das galt, obwohl die Verbraucherausgaben sprunghaft angestiegen sind und das Beschäftigungswachstum angehalten hat. Unterdessen ging die Inflation in der Eurozone im November auf 10,0 Prozent zurück, was darauf hindeutet, dass die 10,6 Prozent vom Oktober der Höchststand waren.

Derweil haben sich die Aktien erholt, insbesondere nachdem der Fed-Vorsitzende Jerome Powell Mitte der vergangenen Woche sagte, dass die Zinssätze von nun an in kleineren Schritten steigen sollten. Er deutete aber auch an, dass die Straffung noch lange nicht abgeschlossen sei.


Das Streben nach sinkender Teuerung 

In der Tat ist es den Zentralbankern letztlich egal, ob die Inflation nicht mehr steigt. Sie wollen, dass sie sinkt, und zwar zurück auf die 2 Prozent, die sie erreichen müssen. Dies unterstreicht die Diskrepanz zwischen ihren Interessen und denen aller anderen Wirtschaftsakteure. Das sollte die Anleger durchaus beunruhigen.

Die Inflation in vielen reichen Ländern hat sich seit Juli zwar verlangsamt, aber Ökonomen gehen davon aus, dass die 2-Prozent-Marke erst im Jahr 2025 wieder erreicht wird, sofern die mittelfristigen Prognosen zutreffen. Die Derivatemärkte wiederum rechnen damit, dass die Fed, die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bank of England im Jahr 2023 keine weiteren Zinserhöhungen mehr vornehmen werden. Später im Jahr dürften sie demnach die Zinsen senken und dann zwei Jahre lang pausieren, während die Inflation zurückgeht.


Furcht vor verhärteter Inflation 

Was aber, wenn sich die Inflation bei einer höheren Rate stabilisiert - etwa zwischen 4 und 6 Prozent? In diesem plausiblen Fall könnten sich die Zentralbanken gezwungen sehen, die Zinssätze wieder anzuheben und die Anleger zu überrumpeln. Es wäre viel sinnvoller, stattdessen das Inflationsziel anzuheben oder es als eine breitere Spanne zu definieren.

Ja, eine außer Kontrolle geratene Inflation führt zu großen Störungen, da die Unsicherheit über die Kosten den Unternehmen einen Grund gibt, die Produktion zu drosseln, und die Arbeitnehmer mit schwindender Kaufkraft zu Streiks greifen. Aber solche Probleme entstehen durch die Beschleunigung der Inflation, nicht durch ihre Höhe. Eine Inflation von 4 Prozent ist durchaus mit einer gesunden, nicht überhitzten Wirtschaft vereinbar. Ein möglicher Grund wäre die Fragmentierung der globalen Lieferketten, die Untersuchungen zufolge früher den Preisdruck gedämpft hatte.


Können die Löhne mithalten? 

Einige an der Wall Street befürchten, dass die Löhne nicht mithalten und den Konsum beeinträchtigen könnten, wie es aktuell beim Rohstoffschock der Fall ist. Langfristig gesehen neigen Volkswirtschaften jedoch zu Wachstum, was bedeutet, dass auch die "realen" Einkommen steigen. Und die historischen Daten zeigen keinen Hinweis darauf, dass eine höhere Inflation weniger von diesem Einkommen in Löhne und Gehälter umleitet als in Gewinne oder umgekehrt. Problematisch wird es allerdings, wenn die Inflation sehr hoch ist, oder im Gegensatz dazu, wenn eine Deflation herrscht. Deshalb plädieren die meisten Ökonomen für eine kleine, aber positive Preissteigerungsrate.


Willkürliche Festlegung des Zwei-Prozent-Ziels 

Es gibt jedoch keinen Grund, warum sie 2 Prozent betragen muss. Die Reserve Bank of New Zealand, die 1989 Pionierarbeit bei der Festlegung von Inflationszielen leistete, wählte willkürlich eine Spanne von 0 Prozent bis 2 Prozent, da der damalige Finanzminister Roger Douglas dies für niedrig hielt. Wahrscheinlich war es hilfreich, dass der historische Median des Verbraucherpreisindex-Wachstums in Ländern wie den USA und Großbritannien bei etwa 2 Prozent lag.

Es könnte Probleme geben, sofern die Anhebung des Inflationsziels an sich einen Lohndruck auslöste, der sich auf die Preise auswirkt. Als die Inflation noch unter 2 Prozent rangierte, bestanden Ökonomen wie Olivier Blanchard, Larry Summers und Jordi Galí darauf, dass dies ein Problem sei, das gelöst werden müsse, und dass ein höheres Inflationsziel dies leisten könne.

Ein solches Ergebnis ist jedoch unwahrscheinlich. Die Inflationserwartungen sind bei der Preisfestsetzung weniger wichtig als die aktuelle Teuerung. Im Interesse von Arbeitnehmern, Unternehmen und Investoren sollten die Zielvorgaben nicht erst dann überdacht werden, wenn die Inflation niedrig ist oder sich beschleunigt, sondern wenn sie hoch und stabil ist.

Kontakt zum Autor: konjunktur.de@dowjones.com

DJG/DJN/axw/smh

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December 05, 2022 04:06 ET (09:06 GMT)