Von Daniel Michaels

BRÜSSEL (Dow Jones)--Europa hat China bei der Gründung von milliardenschweren Tech-Startups überholt. Dies geht aus einer neuen Analyse hervor, die auf den steigenden Status Europas in diesem Bereich und die Auswirkungen von Pekings hartem Durchgreifen gegen kapitalistisches Unternehmertum hinweist. Im vergangenen Jahr hat China seine erfolgreichsten und am freiesten operierenden Tech-Giganten, darunter Alibaba, Tencent und Didi, an die Kandare genommen und damit den gesamten Sektor in die Knie gezwungen. Europa hat unterdessen weitere Investitionen in seine expandierende Technologiebranche angeworben, insbesondere aus den USA.

Zwar gibt es in China immer noch weitaus mehr große Technologieunternehmen als in Europa und auch einen größeren Binnenmarkt für sie, doch haben sich die Trends im vergangenen Jahr verschoben, wie Untersuchungen von Atomico zeigen. Diese in London ansässige Risikokapitalfirma erstellt eine jährliche Analyse, den State of European Tech.


   Europa hängt im Tech-Sektor derzeit China ab 

In diesem Jahr sind in China 26 Technologieunternehmen mit einer Bewertung von mehr als 1 Milliarde US-Dollar, so genannte Einhörner, hinzugekommen, womit sich die Gesamtzahl auf 300 erhöht hat, so Daten von Atomico und des Analysehauses Dealroom. In Europa haben sich in diesem Jahr dagegen 98 neue Einhörner herauskristallisiert, womit sich die Gesamtzahl auf 321 erhöht hat.

Zu Europa zählen alle 27 EU-Länder und 18 weitere, darunter Großbritannien, Norwegen sowie die Schweiz. Auch bei den Risikokapitalinvestitionen hat Europa in diesem Jahr China überholt. In den ersten neun Monaten 2021 hat China 45 Milliarden Dollar dieser Investments erhalten, verglichen mit 52 Milliarden Dollar im gesamten Jahr 2020. Dagegen hat Europa die Gesamtsumme des vergangenen Jahres bereits übertroffen hat. Bis September investierten Risikokapitalfonds 77 Milliarden Dollar in Europa, gegenüber 48 Milliarden Dollar im gesamten vergangenen Jahr.

Laut Tom Wehmeier, Partner bei Atomico und federführend bei der Erstellung des Berichts, sind sowohl die Zahl der Einhörner als auch die Zuflüsse von Risikokapital in Europa rekordverdächtig. Die Gesamtzahl der Risikokapitalfinanzierungen in Europa liegt nahe an der Gesamtzahl in Asien, wohin bis September 110 Milliarden Dollar flossen, gegenüber 87 Milliarden Dollar im gesamten vergangenen Jahr.

Investoren, primär solche aus den USA, werden durch die wachsende Zahl von Tech-Startups nach Europa gelockt, die von einer zunehmenden Zahl von Unternehmern gegründet werden. Davon arbeiteten viele vorher in anderen Tech-Unternehmen.

In den vergangenen Jahren haben die europäischen Regierungen und die EU versucht, die Menschen zu ermutigen, Unternehmen zu gründen und ein gewisses Risiko einzugehen. Dies gilt umso mehr, als dass die traditionellen sozialen Sicherheitsnetze des Kontinents unter dem wirtschaftlichen Druck und den demografischen Veränderungen an ihre Grenzen stoßen.


   US-Konzerne entdecken das gute alte Europa wieder 

Die starken natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge der europäischen Universitäten werden seit langem von großen Industrieunternehmen genutzt, aber zunehmend gehen Absolventen in die Tech-Industrie. In jüngster Zeit haben sich die Beziehungen zwischen den Tech-Branchen auf beiden Seiten des Atlantiks vertieft, zumal China und andere Teile der Welt weniger aufnahmebereit sind.

US-Tech-Unternehmen wie Amazon, Alphabet und die Facebook-Muttergesellschaft Meta Platforms haben Forschungszentren in Europa eingerichtet oder Partnerschaften mit Universitäten geschlossen, um den Talentpool des Kontinents anzuzapfen. Die Beschäftigung von Spezialisten kann in Europa günstiger sein als in den Hightech-Zentren der USA, etwa in San Francisco oder Seattle.

Außerdem sind europäische Start-ups im Allgemeinen niedriger bewertet als ihre amerikanischen Pendants, was für kauffreudige US-Investoren attraktiv ist. Nach Angaben von Atomico entfielen in diesem Jahr 33 Prozent der Frühphasen-Investitionen von weniger als 5 Millionen Dollar auf Europa, verglichen mit 35 Prozent in den USA und 17 Prozent in Asien. Laut Atomico sinkt der Anteil Europas und der Anteil der USA wächst mit der Größe der Finanzierungsrunden, was darauf hindeutet, dass in den USA mehr Geld für größere Geschäfte zur Verfügung steht als in Europa.


   China manövriert sich selbst ins Seitenaus 

China drängt derweil auf eine stärkere staatliche Kontrolle des Privatsektors. Präsident Xi Jinping hat erklärt, dass Unternehmen mehr für die wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Belange der Kommunistischen Partei tun sollten. Auf diesem Weg hat die Regierung Ermittlungen eingeläutet, Börsengänge zum Scheitern gebracht sowie kürzlich hochfliegenden Tech-Unternehmern die Flügel gestutzt und dabei Hunderte von Milliarden Dollar Marktwert vernichtet.

Laut Wehmeier von Atomico erweist sich die relative Vorhersehbarkeit Europas, die viele als Trägheit oder Unbeweglichkeit schelten, zu einem echten Vorteil gegenüber der derzeitigen Situation in China und der Unberechenbarkeit in den USA in den vergangenen Jahren.

"Investoren kämpfen mit der Ungewissheit", erläutert Wehmeier. "Europas Stabilität ist eine großartige Grundlage für den Aufbau eines gesunden Tech-Ökosystems, und das hat sich in letzter Zeit immer deutlicher gezeigt."

Kontakt zum Autor: unternehmen.de@dowjones.com

DJG/DJN/axw/smh

(END) Dow Jones Newswires

December 07, 2021 09:17 ET (14:17 GMT)