(Im zweiten Absatz, erster Satz muss es richtig heißen, dass auch der ehemalige Leiter der Buchhaltung festgenommen wurde. Das Wort "ehemalig" fehlte.)

MÜNCHEN/BERLIN (dpa-AFX) - Der Betrugsskandal beim Dax-Konzern Wirecard erreicht eine neue Dimension: Die Münchner Staatsanwaltschaft geht mittlerweile von "gewerbsmäßigen Bandenbetrug" seit 2015 aus, wie die Ermittlungsbehörde mitteilte, mehr als drei Milliarden Euro könnten verloren sein. Ex-Vorstandschef Markus Braun wurde zum zweiten Mal innerhalb eines Monats in Untersuchungshaft genommen - und anders als Ende Juni auch nicht mehr gegen Millionenkaution auf freien Fuß gesetzt. Das teilte die Münchner Staatsanwaltschaft am Mittwoch mit.

Ebenfalls mit Haftbefehl hinter Gittern sitzen nun der frühere Finanzvorstand Burkhard Ley und der ehemalige Chef der Buchhaltung. Derweil gerät die Bundesregierung politisch weiter unter Druck, weil Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch 2019 in China bei der Pekinger Führung für den geplanten Markteintritt des Konzerns in der Volksrepublik warb.

Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft laufen darauf hinaus, dass der Dax-Konzern womöglich seit 2015 von einer kriminellen Bande geführt wurde - ein in der Geschichte der deutschen Börsen-Oberliga noch nicht da gewesener Vorgang. "Banken in Deutschland und Japan sowie sonstige Investoren stellten, durch die falschen Jahresabschlüsse getäuscht, Gelder in Höhe von rund 3,2 Milliarden Euro bereit, die aufgrund der Insolvenz der Wirecard AG höchstwahrscheinlich verloren sind", hieß es in der Mitteilung der Ermittler.

Sollte sich das bestätigen, könnte Wirecard zum größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte werden. Bisheriger Spitzenreiter ist das badische Unternehmen Flowtex, das in den 1990er Jahren mit dem Verkauf nicht existenter Spezialbohrmaschinen einen Schaden von gut zwei Milliarden Euro angerichtet hatte.

Die im Münchner Vorort Aschheim ansässige Wirecard hatte vor seinem Insolvenzantrag eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren, die auf philippinischen Treuhandkonten verbucht sein sollten.

"In Wirklichkeit war den Beschuldigten spätestens seit Ende 2015 klar, dass der Wirecard Konzern mit den tatsächlichen Geschäften insgesamt Verluste erzielte", schrieben die Ermittler in ihrer Mitteilung. Dies bedeutet auch, dass Wirecard niemals in den Dax hätte aufrücken dürfen. Zeitweilig war das Unternehmen an der Frankfurter Börse mehr als 20 Milliarden Euro wert - offenbar auf Basis von Erfindungen.

"Die sehr intensiven Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I haben ergeben, dass der den Beschuldigten zur Last gelegte Sachverhalt noch einmal ganz erheblich erweitert werden muss", sagte Oberstaatsanwältin Anne Leiding, die Sprecherin der Behörde. "Wir haben ganz umfassende Aussagen eines Kronzeugen." Demnach sollen die beschuldigten Manager 2015 beschlossen haben, die Wirecard-Bilanz durch vorgetäuschte Einnahmen "aufzublähen" - also nicht vorhandene Scheinumsätze und -gewinne zu melden.

Soweit bekannt, erdichtete die Wirecard-Chefetage dafür Geschäfte mit Subunternehmern in Dubai und Südostasien, die für das deutsche Unternehmen angeblich Kreditkartenzahlungen in Südostasien und im Mittleren Osten abwickelten. Schon vorher in Untersuchungshaft saß der frühere Chef der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai, der Cardsystems Middle East.

Dieses Unternehmen steuerte laut Bilanz der Muttergesellschaft Wirecard AG 2018 mit 237 Millionen Euro einen großen Anteil der Gewinne bei - Gewinne, die nicht existierten. Wer der Kronzeuge ist, enthüllten die Ermittler nicht, doch hatte der ehemalige Cardsystems-Geschäftsführer seine Kooperation zugesagt. Nach wie vor auf der Flucht ist der frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, wie Braun österreichischer Staatsbürger.

Für Ex-Vorstandschef Braun kam die neuerliche Inhaftierung wahrscheinlich überraschend: Die Ermittler setzten ihn am Mittwochmorgen fest, als er sich wie vorgesehen bei der Polizei meldete. Alle drei hätten sich nicht gestellt, berichtete Leiding.

Auch für die Bundesregierung wird der Skandal immer ungemütlicher. Kanzlerin Merkel warb 2019 in China noch für Wirecard, als bei der Finanzaufsicht Bafin die Vorwürfe gegen das Unternehmen längst bekannt waren. Als Fürsprecher von Wirecard betätigte sich auch der Ex-Geheimdienstkoordinator der Regierungszentrale. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags rückt näher. Innerhalb der Koalition ist ein Streit über Verantwortlichkeiten ausgebrochen.

Das Bundeskanzleramt bestätigte, dass es seit Ende 2018 mehrmals Kontakt mit Wirecard-Managern und Beratern gab. Unter anderem wandte sich der von 2014 bis zum Frühjahr 2018 für die Geheimdienste zuständige Ex-Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche an das Kanzleramt und bat um einen Gesprächstermin für die Wirecard AG. Zur Vorbereitung bat das Kanzleramt beim Finanzministerium um Informationen zum Unternehmen. Das Finanzressort schickte dann "öffentlich verfügbare Informationen" ans Kanzleramt - darunter Antworten der Regierung auf Anfragen der Opposition, bei denen es um Vorwürfe gegen Wirecard ging, etwa zu Unregelmäßigkeiten bei der Rechnungslegung.

Auf ihrer China-Reise im September 2019 sprach Merkel bei der Pekinger Führung das Thema der geplanten Übernahme des chinesischen Unternehmens AllScore Financial durch Wirecard an. Merkel habe zum Zeitpunkt der Reise "keine Kenntnis von möglichen schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard" gehabt, so der Sprecher. Dass deutsche Spitzenpolitiker einschließlich Kanzlerin auf Auslandsreisen für deutsche Firmen werben, ist Usus.

Laut Kanzleramt hat Ex-Vorstandschef Braun auch bei diesen Kontakten in die deutsche Regierungszentrale noch die Fälschungsvorwürfe bestritten. Linke-Fraktionsvize Fabio De Masi sagte zu den neuen Details: "Die Affäre Wirecard wird immer undurchsichtiger."/cho/DP/fba/he