MINSK (dpa-AFX) - Trotz der Freilassung Hunderter Demonstranten in Belarus (Weißrussland) reißen die Proteste gegen Gewalt und Willkür unter Präsident Alexander Lukaschenko nicht ab. In der Hauptstadt Minsk bildeten sich lange Menschenketten, mit denen gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen friedliche Kundgebungen demonstriert wurde. Auch viele Ärzte waren darunter. Lukaschenko sagte zu Spekulationen in einigen Medien, er habe das Land bereits verlassen: "Fürs Erste: Ich bin noch am Leben und nicht im Ausland."

In der ehemaligen Sowjetrepublik hatte sich der oft als "letzter Diktator Europas" bezeichnete Präsident am Sonntag zum sechsten Mal in Folge als Wahlsieger ausrufen lassen - mit rund 80 Prozent der Stimmen. Daran gibt es erhebliche Zweifel. Seit der Abstimmung kommt es zu massiven Protesten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von "brutaler Gewalt". Am Nachmittag wollten die EU-Außenminister bei einer Videokonferenz über die Lage in der Ex-Sowjetrepublik beraten.

Vor dem Treffen sprach sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für Strafmaßnahmen gegen Verantwortliche in Belarus aus: "Wir brauchen zusätzliche Sanktionen gegen diejenigen, die in Belarus demokratische Werte missachtet oder gegen Menschenrechte verstoßen haben." Merkel äußerte sich nach Worten von Regierungssprecher Steffen Seibert auch "erschüttert" über Berichte, wonach Inhaftierte misshandelt wurden. "Die Aussagen der gepeinigten Menschen belegen ja leider viele solche Fälle."

In Belarus hält ein großer Teil der Bevölkerung die Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja für die eigentliche Gewinnerin der Abstimmung. Aus Angst um ihre Sicherheit und die ihrer Kinder ist die 37-Jährige ins benachbarte EU-Land Litauen geflüchtet. In einer Videobotschaft rief sie zu neuen friedlichen Protesten auf. "Lasst uns zusammen unsere Stimmen verteidigen." Am Samstag und Sonntag sollten sich die Menschen in allen Städten des Landes zu friedliche Massenversammlungen zusammenfinden.

Am Morgen traten Arbeiter in Staatsbetrieben erneut in den Streik gegen den Machtapparat. Lukaschenko warnte bei einer Regierungssitzung vor Arbeitsniederlegungen. "Wenn wir aufhören zu arbeiten, werden wir die Produktion nie wiederherstellen können", sagte er. Nach Einschätzung von Beobachtern könnte ein flächendeckender Streik in den Betrieben Lukaschenko zu Fall bringen. Der Druck auf ihn ist nach Meinung von Beobachtern weiter gewachsen. Es mehren sich Stimmen von Experten, die meinen, dass seine Tage im Amt gezählt sein könnten.

In der Nacht zum Freitag hatten die Behörden viele der rund 7000 im Zuge der Proteste festgenommenen Bürger wieder auf freien Fuß gesetzt. Tausende wurden aber weiter in den Gefängnissen festgehalten. Nach ihrer Freilassung berichteten viele von schwersten Misshandlungen im Gefängnis. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte von der Staatsführung den sofortigen Stopp jeglicher Gewalt.

In Videos schilderten Frauen und Männer, dass sie kaum zu essen bekommen hätten und in engsten Zellen stehend zusammengepfercht worden seien. Viele zeigten - nur in Unterwäsche gekleidet - ihre mit Platzwunden und großen blauen Flecken von Schlägen übersäten Körper. Frauen berichteten nach der Freilassung aus dem Gefängnis auf der Okrestin-Straße in Minsk unter Tränen, dass sie geschlagen worden seien. In Zellen mit vier Betten seien 35 Frauen gewesen, sagte eine Freigelassene dem Portal tut.by. "Sie haben mit schrecklicher Brutalität zugeschlagen. Überall war viel Blut."

Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat einlenkte. Tausende hatten auch am Donnerstag bei den bislang breitesten Protesten den Rücktritt des Präsidenten gefordert. "Hau ab!", "Freiheit!" und "Es lebe Belarus!", riefen viele Demonstranten. Zuletzt hatte Lukaschenko auch mit dem Einsatz der Armee gedroht.

In Russland, das wirtschaftlich eng mit Belarus verbunden ist, wurden Rufe nach einer Vermittlerrolle Moskaus laut. Der russisch-belarussische Handelsrat forderte ein Ende des "sinnlosen Blutvergießens und der Gewalt gegen friedliche Bürger". Es müsse ein Komitee zur nationalen Rettung aus Intellektuellen und Wirtschaft gebildet werden. Russland gilt als das Land mit dem größten Einfluss in der Ex-Sowjetrepublik. Allerdings unterstützt auch die EU die Entwicklung des zwischen Polen und Russland gelegenen Staates./mau/DP/stw