ESSEN (dpa-AFX) - Paukenschlag beim kriselnden Industriekonzern Thyssenkrupp: Die Essener um den Vorstandsvorsitzenden Guido Kerkhoff haben erneut einen Strategieschwenk eingeleitet. Die geplante Stahlfusion mit dem Konkurrenten Tata Steel ist geplatzt, die Aufspaltung des Unternehmens auch. Stattdessen schwenkt Kerkhoff auf die Linie seines Großaktionärs Cevian ein. Sie birgt Risiken, an deren Ende die Zerschlagung des Traditionskonzerns stehen könnte. Was bei dem Unternehmen los ist, was Experten sagen und was die Aktie macht.

DAS IST LOS BEI THYSSENKRUPP:

Lange hing die geplante Stahlfusion in der Schwebe. Thyssenkrupp und Tata hatten zunächst nur geringe Zugeständnisse an die EU-Kommission gemacht, spätere Nachbesserungen konnten die Bedenken der Behörde jedoch nicht ausräumen. Der Zusammenschluss war damit geplatzt. Damit wurde ein wichtiger Baustein der Thyssenkrupp-Strategie von Konzernchef Guido Kerkhoff hinfällig: die geplante Aufspaltung in zwei Unternehmen. Vorgesehen war die Aufteilung in ein Unternehmen mit dem Industriegeschäft und eines, das den Anteil am neuen Stahlunternehmen, den Stahlhandel sowie das Werftengeschäft vereint.

Jetzt muss sich Thyssenkrupp abermals neu erfinden: Die einzelnen Sparten sollen selbstständiger werden. Für das Geschäft mit Autokomponenten und dem Anlagenbau will Thyssenkrupp Partner suchen. Dabei wäre Thyssenkrupp laut Kerkhoff auch bereit, sich mit einem Minderheitsanteil zu begnügen. Möglich wäre auch die Abgabe von Teilbereichen. Ähnliches gilt auch für die Werftensparte, die U-Boote und Schiffe für das Militär produziert.

Ein Börsengang der Aufzugssparte soll Geld in die Kassen spülen. Unterstützt wird das ganze durch eine schlanke Holding. Flankiert werden soll die Neuausrichtung durch massive Einschnitte bei den Kosten, die auch den Abbau von 6000 Stellen beinhalten.

Thyssenkrupp folgt damit früheren Forderungen seines Großaktionärs Cevian, der schwedische Finanzinvestor kritisiert die Entwicklung bei den Essenern seit Jahren. Die Idee dahinter erinnert dabei an das Modell des Elektrokonzerns Siemens, der das seit Jahren vorexerziert. Die Münchener brachten nicht nur Osram, Infineon oder Siemens Healthineers an die Börse. Sie verschmolzen auch ihr Windkraftgeschäft mit dem des spanischen Wettbewerbers Gamesa zu einem neuen, börsennotierten Unternehmen. Und der nächste Börsengang steht mit der Energiesparte bereits in den Startlöchern.

Bei Thyssenkrupp drängt jedoch im Gegensatz zu Siemens die Zeit, der Konzern steht seit Jahren unter Druck, bessere Ergebnisse zu liefern. Die Krise verschärfte sich zuletzt wieder: Die Essener mussten eine schwache Entwicklung im ersten Geschäftshalbjahr hinnehmen, im zweiten Quartal (bis Ende März) schrieb der Konzern rote Zahlen. Eine sinkende Nachfrage im Komponentengeschäft und in der Stahlsparte sowie steigende Verluste im Anlagenbau drücken die Ergebnisse. Die Essener hinken in den wesentlichen Geschäften weiter ihren Wettbewerbern hinterher und sind chronisch finanzschwach.

Mit den seit Jahren dauernden Verhandlungen rund um die Stahlfusion hat Thyssenkrupp viel Zeit verloren und wird dadurch nun zum Getriebenen. Dies führt auch zu Tadel der Aktionärsvertreter. So hat Thomas Hechtfischer von er Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) kritisiert, dass der Konzern drei Jahre letztendlich umsonst an der Stahlfusion herumgebastelt habe. Und in die Aufspaltungspläne sei ebenfalls viel Zeit investiert worden - ohne ersichtlichen Nutzen.

Da das kapitalintensive und stark schwankungsanfällige Stahlgeschäft nun doch im Konzern verbleibt, benötigt Thyssenkrupp rasch andere Geldquellen, um die Neuausrichtung und das künftige Wachstum zu finanzieren. Dafür ist der Börsengang der Aufzugssparte gedacht. Das Geschäft gilt als Perle im Konzern und dürfte früheren Marktschätzungen zufolge an der Börse etwa doppelt so viel wert sein wie Thyssenkrupp derzeit insgesamt. Thyssenkrupp gehört dabei zu den führenden Herstellern weltweit. Das Geschäft leidet jedoch unter starkem Wettbewerb, Preisdruck und hohen Materialkosten.

Für Hechtfischer ist ein Börsengang eine "Notlösung". Thyssenkrupp brauche einerseits das Geld, das ein Börsengang erlösen würde. Andererseits brauche der Konzern aber auch die Dividende, die das Geschäft abwirft. Der DSW-Geschäftsführer betrachtet den Börsengang der Aufzugssparte damit als Notlösung.

Die Aufzugssparte hatte schon früher Begehrlichkeiten geweckt - so hatte der finnische Wettbewerber Kone bereits vor einigen Jahren ein Auge darauf geworfen. Die Finnen sollen Medienberichten zufolge nun wieder eine mögliche Übernahme durchspielen. Ob sich Thyssenkrupp darauf einlassen würde, ist jedoch fraglich. Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis könnten erneut die Wettbewerbsbehörden sein. Denn bei einer Fusion würden die beiden den US-Hersteller Otis als Marktführer überholen. Die EU-Kommission würde sich solche Pläne daher ganz genau ansehen, was zeitintensiv werden dürfte. Der Börsengang soll dagegen laut Thyssenkrupp bis September 2020 über die Bühne gehen.

Bei der Werftensparte könnten ebenfalls wieder alte Bekannte ihre Fühler ausstrecken: Der mehrheitlich im Staatsbesitz stehende französische Marinekonzern Naval, dem bereits mehrfach Interesse an einem Zusammenschluss nachgesagt wurde. Hier könnte auch die Politik ein Wörtchen mitreden wollen, geht es hier doch um einen wegen der Militärausrichtung um einen sensiblen Bereich.

Noch steht die Genehmigung des Aufsichtsrates aus. Diese soll am Dienstag (21. Mai) erfolgen. Wichtige Ausschüsse haben allerdings schon ihre Zustimmung gegeben. Auch die Gewerkschaft befürwortet die Strategie grundsätzlich. Allerdings kündigten die Arbeitnehmervertreter harte Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem geplanten Stellenabbau an.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Analysten bewerten die neuesten Pläne im Prinzip positiv. Der neue Plan der Essener sei überzeugend und habe zahlreiche Vorteile verglichen mit der vorherigen Absicht einer Abspaltung des Materials- von dem Industrials-Bereich, schrieb Analyst Ingo-Martin Schachel von der Commerzbank. Dirk Schlamp von der DZ Bank notierte, dass nun Klarheit im Hinblick auf die Zukunft von Thyssenkrupp geschaffen worden sei. Der Markt habe zudem das Joint Venture mit Tata Steel als auch die Aufspaltung kritisch betrachtet.

Einen "U-Turn" nannte Analyst Luke Nelson von der Bank JPMorgan das strategische Umdenken. Damit sei der Industriekonzern letztlich wieder zu dem zurückgekehrt, was viele Marktteilnehmer vor einem Jahr schon gehofft hätten. Das gelte besonders für den beabsichtigen Börsengang der Aufzugsparte. Laut Alan Spence vom US-Broker Jefferies dürfte das "Kronjuwel" im Portfolio der Essener bei Investoren auf großes Interesse stoßen. Der Experte wies darauf hin, dass die Aktien anderer Hersteller von Aufzügen wie Kone und Schindler an der Börse deutlich höher bewertet würden als gegenwärtig die Aufzugssparte als Teil des Thyssenkrupp-Konzerns.

Auch die britische Investmentbank Barclays sieht die Herauslösung der Aufzugsparte "absolut positiv", geht aber nicht davon aus, dass ein Börsengang die Aufzugssparte als Unternehmen voranbringen würde. Deren Wert werde sich durch den Plan herauskristallisieren, aber nicht maximieren, so Analyst Lars Brorson.

Doch es gibt auch skeptische Stimmen zur neuen Strategie: "Es gibt Risiken rund um den vorgeschlagenen Börsengang eines Minderheitenanteils am Aufzugsgeschäft", sagte JPMorgan Analyst Nelson. Hierzu zählte der Experte vor allem die Haltung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Und auch Schlamp von der DZ Bank gießt Wasser in den Wein und stufte die Aktie herunter. So belastet die Rückintegration des Stahlgeschäfts. Auch notierte er das schwierige konjunkturelle Umfeld als Risiko.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Die Thyssenkrupp-Aktie reagierte an dem Tag der großen Kehrtwende mit einem Kurssprung von 28 Prozent auf die neuen Ereignisse. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Papier die am schwersten gebeutelte Aktie im Dax ist. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Kurs nahezu halbiert, Analysten und Investoren straften sowohl die geplante Stahlfusion, deren Hängepartie sowie die vorgesehene Teilung des Unternehmens mit Misstrauen.

Das dies weiterhin gegeben ist, zeigt der stark schwankende Kursverlauf nach der Ankündigung: Die Erholung bröckelte rasch wieder ab. Medienberichte über ein Interesse von Kone ließ die Aktie vergangene Woche wieder anspringen. Mit einem Kursminus von aktuell 16,5 Prozent im Jahresverlauf trägt Thyssenkrupp weiterhin die rote Laterne im Dax./nas/stk/fba