MÜNCHEN (dpa-AFX) - Der Technologiekonzern Siemens steht vor seiner größten Transformation seit Jahren. Mit der Entscheidung, sich von seinem Energiegeschäft zu trennen, kappt das Unternehmen einen Teil seiner Wurzeln. Die DNA der Münchener wird mit der Konzentration auf die wachstumsträchtigen digitalen Geschäfte grundlegend verändert. Dabei kann Siemens auf eine robuste Entwicklung im ersten Halbjahr zurückgreifen. Investoren griffen am Mittwochmorgen bei der Aktie zu - sie lag mit einem Plus von mehr als fünf Prozent an der Dax-Spitze.

Bei Siemens beginne in der zweiten Hälfte des Geschäftsjahres "eine neue Ära", sagte Konzernchef Joe Kaeser am Mittwoch nach der Vorlage der Zahlen für das zweite Quartal. Am Vortag hatte die Konzernführung bereits für einen Paukenschlag gesorgt. Der Technologiekonzern will sich mittelfristig von seinen Energiegeschäften trennen und sich auf die Digitalisierung konzentrieren. Seine neu zum 1. April formierte Energiesparte Gas and Power will das Unternehmen ausgliedern und bis September 2020 an die Börse bringen. Siemens-Aktionäre sollen dabei entsprechend Anteile an der neuen Gesellschaft erhalten.

In der Sparte ist auch das seit längerem schwächelnde Kraftwerksgeschäft enthalten. Siemens geht dabei jedoch noch einen Schritt weiter: Der Konzern will seinen Aanteil von 59 Prozent an dem Windradhersteller Siemens Gamesa in die neue Gesellschaft einbringen.

Dabei will Siemens die Mehrheit an dem neuen Unternehmen abgeben aber Ankeraktionär bleiben. Der Anteil soll anfänglich bei etwas weniger als 50 Prozent liegen und auf Sicht die Sperrminorität von 25 Prozent nicht unterschreiten. Damit trennt sich Siemens von einem wesentlichen Bestandteil seines Kerngeschäfts. Dies sei "ein verdammt emotionaler Prozess", sagte Kaeser.

Für Andreas Willi von JPMorgan bedeutet das für Siemens die größte Umwälzung seit dem Ausstieg aus der Telekommunikation im Jahr 2006. Dies könnte den derzeit herrschenden Konglomeratsabschlag bei der Siemens-Aktie reduzieren, den der Analyst bei 35 Euro sieht. Er sieht die Entscheidung positiv, da die Ausrichtung auf das digitale Kerngeschäft für Investoren besser einsehbar sei. Allerdings mache es die Struktur von Siemens seiner Einschätzung zufolge auch komplexer. Die Ausgliederung des Energiegeschäfts ändere zudem nichts an den fundamentalen Herausforderungen, in dem sich das Geschäft befände. Auch in diesem Zusammenhang soll nun noch mehr gespart werden: Bis 2023 sollen die Kosten der Energiesparte um 1 Milliarde Euro gesenkt werden und damit doppelt so stark wie bisher geplant.

Über die Abspaltung und spätere Börsennotierung soll eine außerordentliche Hauptversammlung voraussichtlich im Juni 2020 entscheiden. Gas and Power umfasst die Aktivitäten in den Bereichen Öl und Gas, konventionelle Energieerzeugung, Energieübertragung und die jeweils dazugehörigen Servicegeschäfte. Siemens werde dabei sowohl Gas and Power als auch Siemens Gamesa dekonsolidieren. Das neue Unternehmen soll Siemens im Namen führen.

"Durch die Kombination des Leistungsspektrums der konventionellen Erzeugung mit der Stromversorgung durch Erneuerbare Energien decken wir die Nachfrage der Kunden vollständig ab", sagte Konzernchef Kaeser. Er sei überzeugt, dass die Entscheidung für alle Seiten positiv sei. Der Aufsichtsrat hat den Entschluss einstimmig gebilligt und auch die Gewerkschaften tragen den Prozess mit.

Damit trennt sich Siemens auch von seinem derzeit größten Sorgenkind: Dem Kraftwerksgeschäft. Vor allem bei großen Gasturbinen war in den letzten Jahren der Markt weggebrochen. Siemens läutete ein Sparprogramm ein, das den Abbau von Kapazitäten und die Streichung tausender Stellen umfasst. Siemens Gamesa entstand 2017 aus der Fusion der Siemens-Windkraftsparte mit dem spanischen Konkurrenten Gamesa. Hier verlief der Start eher holprig, der Windmarkt leidet weiterhin unter Preisdruck. Laut JPMorgan-Analyst Willi sind das Energiegeschäft sowie Siemens Gamesa für einen großen Teil der derzeit bei Siemens herrschenden Kapitalbindung verantwortlich.

Siemens will sich künftig auf seine Wachstumsfelder konzentrieren: Kerngeschäfte werden künftig die Sparten Digital Industries sowie Smart Infrastructure sein. In den Märkten Automatisierung, industrielle Digitalisierung und intelligente Infrastruktur will Siemens deutlich zulegen und seine Stellung weiter ausbauen. Flankiert werden sie von der börsennotierten Mehrheitsbeteiligung Siemens Healthineers sowie der Bahntechnik, welches als Wachstumsgeschäft ebenfalls gestärkt werden soll.

Nach der gescheiterten Fusion mit dem französischen Bahnkonzern Alstom prüft Siemens dennoch verschiedene Optionen für das Mobility getaufte Geschäft. Es gebe jedoch keine Eile, eine Entscheidung zu treffen, sagte Kaeser. Früheren Aussagen zufolge ist ein Börsengang eine Erwägung.

Siemens hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach starke Veränderungen durchlaufen: Die Börsengänge des Chipkonzerns Infineon sowie Epcos, die Ausgliederung und Börsennotierung des Lichtkonzerns Osram, die Trennung vom Telekommunikationsgeschäft gehörten unter anderem dazu dazu. In den letzten Jahren erfolgten dann der Zusammenschluss des Windgeschäfts mit Gamesa sowie der Börsengang der Medizintechniksparte Siemens Healthineers.

Die jetzt gefällte strategische Neuausrichtung ist Teil des Programms "2020+", welches Siemens in Grundzügen bereits im vergangenen Sommer vorgelegt hatte und mit dem der Konzern Wachstum und Profitabilität ankurbeln will. Siemens wolle "proaktiv agieren, bevor wir reagieren müssen", so Kaeser. Denn Siemens kann derzeit noch auf eine recht robuste Geschäftsentwicklung bauen. Im zweiten Quartal schnitt Siemens besser ab als erwartet.

Das um Sondereffekte bereinigte operative Ergebnis (Ebita) der Industriegeschäfte stieg um sieben Prozent auf 2,4 Milliarden Euro. Den stärksten Beitrag lieferte die Sparte Digitale Fabrik, auch wenn deren Ergebnisse zurückgingen. Dicht dahinter folgte die Tochter Siemens Healthineers, die ihre Gewinne steigern konnte. Bessere Ergebnisse lieferte auch das Kraftwerksgeschäft. Die Auftragslage ist dabei robust. Der Auftragseingang nahm um sechs Prozent 23,6 Milliarden Euro zu, auch dank mehrere Großprojekte der Bahntechniksparte.

Die Prognose für das am 30. September endende Geschäftsjahr bekräftigte Siemens. Bereinigt um Kosten für Personalabbau in der Kraftwerkssparte erwartet der Konzern eine Marge für das Industriegeschäft von 11 bis 12 Prozent. Im vergangenen Geschäftsjahr waren es 11,3 Prozent gewesen. Beim Gewinn je Aktie erwartet das Management um Kaeser eine Zunahme auf 6,30 bis 7,00 Euro. Auch hier sind Kosten für Stellenabbau ausgeklammert. Finanzvorstand Ralf Thomas kündigte eine Präzisierung für das dritte Quartal an.

Mittelfristig sollen die jährliche Wachstumsrate des Umsatzes und die Gewinnmarge des Industriellen Geschäfts um jeweils zwei Prozentpunkte steigen. Das Ergebnis je Aktie soll mittelfristig stärker wachsen als der Umsatz. Langfristig soll die Gewinnmarge des Industriellen Kerngeschäfts 14 bis 18 Prozent erreichen, im zweiten Quartal lag sie bei 11,7 Prozent.

Dazu will Siemens Kosten sparen. Wie bereits angekündigt, sollen zentrale Konzernfunktionen wie die Verwaltung dezentralisiert und schlanker aufgestellt werden. Dies bedeutet einen Abbau von rund 2500 der insgesamt etwa 12 500 Arbeitsplätze in diesen Zentralfunktionen bis 2023, wie Siemens weiter mitteilte.

Die in diesem Zusammenhang anfallenden Kosten bezifferte Siemens auf 400 Millionen Euro, die Aufwendungen für das Effizienzprogramm sollen bei rund 1 Milliarde Euro liegen. Bis 2023 will der Konzern durch Effizienzsteigerungen die Kosten um rund 2,2 Milliarden Euro senken. Das bereits bekannte Sparprogramm in der Kraftwerkssparte von 500 Millionen Euro ist darin bereits enthalten.

Insgesamt sollen damit 10 400 Stellen in Verwaltung, Digital Industries und bei Smart Infrastructure abgebaut werden. Dies soll sozialverträglich geschehen. So soll der Abbau durch die derzeit herrschende Altersstruktur aufgefangen werden, so Kaeser. Gleichzeitig plant Siemens jedoch die Schaffung 20 500 neuer Stellen./nas/he/zb