DARMSTADT (dpa-AFX) - Die Corona-Krise dürfte beim Darmstädter Spezialchemie und Pharmakonzern Merck KGaA im zweiten Quartal deutlichere Spuren hinterlassen haben. Die Aktie hat sich inzwischen vom Corona-Crash erholt, doch zuletzt, so scheint es, fehlten neue Impulse. Zur Lage des Unternehmens, was die Analysten sagen und was die Aktie macht:

LAGE DES UNTERNEHMENS:

Eigentlich bahnte sich bei Merck zuletzt Gutes an: Das Laborgeschäft des Dax-Unternehmens wächst seit Jahren dank der Übernahme des US-Konzerns Sigma-Aldrich und das Pharmageschäft lief dank neuer Medikamente wieder besser. Und selbst in der schwächelnden Sparte für Spezialmaterialien, die durch ein schwieriges Geschäft mit Flüssigkristallen etwa für Smartphones und Displays heruntergezogen worden war, schien der Konzern mit dem Schwenk hin zu Halbleitermaterialien eine passende Antwort gefunden zu haben.

Doch mit Corona dürften die erhofften Fortschritte länger auf sich warten lassen. Zur Bilanzvorlage für das erste Quartal hat Merck-Chef Stefan Oschmann bereits die Ziele für den Gesamtkonzern für dieses Jahr gekürzt und sich auch von der ursprünglich für 2020 angepeilten Erholung im Spezialchemiegeschäft verabschiedet.

In das neue Jahr waren die Darmstädter auch dank der Übernahme des US-Halbleiter-Zulieferers Versum Materials zwar noch mit starken Zuwächsen bei Umsatz und Ergebnis gestartet. Im zweiten Jahresviertel dürfte der Dax-Konzern jedoch erheblich mit den Folgen der Virus-Pandemie zu kämpfen gehabt haben. Genaueres dürfte der an diesem Donnerstag anstehende Quartalsbericht zeigen. So fiel der Lockdown in vielen wichtigen Endmärkten wie Europa und die USA größtenteils in diese Periode.

Oschmann hat bereits erklärt, dass die Corona-Krise sämtliche Geschäftsbereiche treffen dürfte. So dreht die Pandemie selbst im sonst eigentlich robusten Laborgeschäft einigen Aktivitäten den Saft ab: Weil Forschungseinrichtungen geschlossen wurden, schwächelt dort etwa das Geschäft mit akademischen Kunden. Bei den Spezialmaterialien kam durch die Pandemie zusätzlich zum Problem der Flüssigkristalle noch die Schwäche im Pigmentgeschäft hinzu - der Bereich beliefert mit der Auto- und Kosmetikbranche ausgerechnet zwei Industrien, die im Lockdown teils erheblich unter einer gesunkenen Nachfrage zu leiden hatten.

Im Pharmageschäft erwischte es zunächst das Geschäft mit der Familienplanung: Deutliche Rückgänge hatte Merck bereits zum Jahresstart mit seiner Fruchtbarkeitstherapie Gonal-F zu verzeichnen, im zweiten Quartal rechnen Experten nun auch noch mit einem Einbruch bei der Multiple-Sklerose-Tablette Mavenclad insbesondere in den USA.

Merck hat das Medikament erst seit wenigen Jahren auf dem Markt, in jüngster Vergangenheit hatte es sich zum verlässlichen Wachstumsbringer gemausert. Im vergangenen Jahr hatte der Konzern rund 320 Millionen Euro mit dem Mittel umgesetzt, 2018 waren es noch 90 Millionen Euro gewesen. Doch Experten schätzten, das der Lockdown in den USA im zweiten Quartal die Umsätze um gut ein Fünftel hat einknicken lassen, weil Therapien verschoben wurden.

Das Management hat seine Prognose unter die Prämisse gestellt, dass die Pandemie im zweiten Quartal in Europa und USA ihren Höhepunkt erreicht hat und sich die Lage bis Ende September normalisiert. Eine zweite größere Corona-Welle ist in den Zielen nicht berücksichtigt. Angesichts der wieder steigenden Fallzahlen in den USA aber auch in Europa könnte Merck noch eine schwierige Zeit bevorstehen.

DAS SAGEN DIE ANALYSTEN

Mit Blick auf die Aktie sind Analysten inzwischen zurückhaltender: Von den im dpa-AFX Analyser seit der letzten Bilanzpräsentation im Mai erfassten 13 Experten empfehlen nur noch drei die Aktie zum Kauf. Die Mehrheit mit sieben Stimmen stellt sich mittlerweile an die Seitenlinie und votiert für "Halten". Drei Analysten raten, das Papier zu verkaufen. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 109,58 Euro, ähnlich hoch wie vor rund drei Monaten.

Damals hatten sich Kauf- und Halten-Voten noch die Waage gehalten. Dass sich inzwischen das Pendel in Richtung Vorsicht senkt, lässt sich wohl auch mit der Kursentwicklung begründen: Seit Anfang Mai hatte das Merck-Papier zeitweise fast 15 Prozent hinzugewonnen.

Zwar hat sich die Aktie deutlich von ihren Corona-bedingten Tiefständen erholt, doch rechnen die Experten damit, dass Merck sich wappnen muss. Für den Rest des Jahres dürfte es mit den Corona-Belastungen noch einiges an Gegenwind geben, prophezeite etwa HSBC-Analyst Stephen McGarry vor einigen Wochen.

Mit einem Kursziel von 125 Euro traut Analyst Trung Huynh von der Schweizer Bank Credit Suisse der Aktie derzeit am meisten zu. Seine positive Einschätzung begründet der Experte generell mit dem solide wachsenden Markt für Laborbedarf und dem Potenzial der Pharmapipeline, das er insbesondere in der MS-Tablette Mavenclad und dem Krebsmedikament Bavencio begründet sieht. Doch die Auswirkungen des Lockdowns auf das Pharmageschäft machen auch Huynh derzeit Sorgen. Zudem weist er auf den anhaltenden Konkurrenzdruck aus Asien im Flüssigkristallgeschäft hin. Er erhofft sich daher von Konzernchef Oschmann genauere Hinweise darauf, wie dieser das zweite Halbjahr einschätzt.

Große Zweifel äußert Analyst Krishna Chaitanya Arikatla von der US-Bank Goldman Sachs. Er sieht derzeit ganz klar ein Übergewicht an Risiken und stuft daher die Aktie mit "Sell" ein. Sein Kursziel von 94 Euro ist aktuell eines der niedrigsten im dpa-AFX Analyser. Als eines seiner wichtigsten Argumente zählt Arikatla die Rückschlaggefahr für das Diabetes-Medikament Glucophage in China auf, für das er im kommenden Jahr mit deutlichen Umsatzeinbußen rechnet.

Uneins sind die Experten zudem in ihrer Beurteilung von Bavencio, das Krebsmittel ist einer der wichtigsten Hoffnungsträger des Konzerns: Emily Field von der britischen Barclays-Bank etwa bezweifelt das kommerzielle Potenzial des Mittels. JPMorgan-Analyst Richard Vosser hingegen zeigte sich nach vielversprechenden Daten bei Blasenkrebs begeistert und erklärte Anfang Juni dass der Markt nun seine Erwartungen in dieser Indikation anheben müsse.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Das mit dem Corona-Crash erreichte Zwischentief im März bei rund 76 Euro hat die Merck-Aktie schon lange hinter sich gelassen. Bis Mitte Juli konnte sich der Kurs um mehr als die Hälfte bis auf knapp 118 Euro erholen, fiel dann allerdings zuletzt wieder etwas zurück. Wer zum Tiefpunkt eingestiegen ist, hat damit aber einen satten Gewinn erzielt. Sogar seit Jahresbeginn liegt das Papier inzwischen wieder im Plus.

Weniger erfreulich ist die Kursbilanz mit Blick auf das Hoch aus dem Februar. So weit hatte es die Aktie vor allem deshalb geschafft, weil die Anleger auf eine Erholung im Spezialchemiegeschäft setzten. Doch bis zum bisherigen Rekordkurs von knapp 126 Euro klafft derzeit noch immer eine Lücke von mehr als zehn Prozent.

Aktuell bringt es die Merck-Aktie auf einen Marktwert von knapp 50 Milliarden Euro und liegt damit im europäischen Pharmaindex auf Platz 17 - im Dax schafft es Merck damit aber unter die die Top-Ten. Mit seiner Kursentwicklung schlägt das Papier an der Frankfurter Börse den Gesamtmarkt: Zum Vergleich: Der deutsche Leitindex liegt seit Jahresbeginn noch etwas im Minus, und bis zu seinem Rekord bei knapp 13 800 Punkten von Mitte Februar fehlen dem Börsenbarometer derzeit noch etwa acht Prozent./tav/knd/stk