(neu: Erklärungen Habecks und Söders in den Absätzen 2,3 und 4)

BERLIN (dpa-AFX) - Familien finden keine Wohnungen, Ältere haben Angst, die Miete nicht mehr zahlen zu können - die Wut über stark steigende Mieten hat am Samstag mehrere Zehntausend Menschen in vielen deutschen Städten auf die Straße getrieben. In Berlin, wo das Problem wie in vielen Großstädten besonders krass ist, begann gleichzeitig ein bislang einmaliges Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne - und sorgt für hitzige Debatten.

Der Grünen-Bundesvorsitzende Robert Habeck hält Enteignungen prinzipiell für denkbar. Wenn etwa Eigentümer brachliegender Grundstücke weder bauen noch an die Stadt verkaufen wollten, müsse notfalls die Enteignung folgen, sagte er der "Welt am Sonntag". Das Grundproblem sei, dass große Wohnungsbestände zum Spekulationsobjekt geworden seien, erklärte Habeck am Sonntag. "Hungrige Immobilienfonds handeln nur mit Blick auf reine Rendite", betonte der Grünen-Chef. Aber es müsse auch immer gefragt werden, ob Gelder, die zur Entschädigung bei einer Enteignung eingesetzt werden müssten, mit größerem Effekt anders verwendet werden könnten.

Überdies schlug Habeck vor, dass Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) umgehend anordnen sollte, alle Grundstücke der Bundesimmobiliengesellschaft zu annehmbaren Preisen an die Kommunen abzugeben. Diese müssten sich aber im Gegenzug verpflichten, darauf Sozialwohnungen zu errichten.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) griff Habeck scharf an. "Enteignungen sind nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun", sagte er dem "Münchner Merkur" (Montag). Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte zu der Debatte in Duisburg: "Mit Enteignungen wird nicht eine einzige neue Wohnung geschaffen." Es würden nur private Investoren verschreckt, die neue Wohnungen bauen könnten.

SPD-Parteichefin Andrea Nahles sagte der "Bild am Sonntag", sie verstehe die Wut auf Wohnungskonzerne, "die jeden Cent aus den Mietern rauspressen wollen". Statt Enteignungen wolle die SPD aber einen Mietenstopp. "Und das verfügbare Geld in bezahlbaren Wohnraum investieren, damit mehr Wohnungen entstehen". Widerspruch erhielt sie aus der eigenen Partei. Der SPD-Vize-Bundesvorsitzende Ralf Stegner verteidigte Enteignungen als ein letztes "Notwehrrecht" des Staats. Enteignungen seien sicher nicht das vordringlichste Mittel, um das Grundrecht auf bezahlbares Wohnen durchzusetzen, schrieb er am Sonntag auf Twitter. "Neben Mietenstopp, Bodengewinnbesteuerung, mehr Mieterrechten und der Förderung von Genossenschaften bleibt es aber Notwehrrecht gegen Marktradikalismus für handlungsfähigen Staat!"

Doch gerade auf das Grundgesetz berufen sich auch die Initiatoren des Volksbegehrens, das in mehreren Stufen abläuft und sich Jahre hinziehen kann. Artikel 15, der allerdings mach Angaben von Verfassungsrechtlern noch nie angewendet wurde, lässt unter Bedingungen die Überführung von Grund und Boden oder Produktionsmitteln gegen Entschädigung in Gemeineigentum zu.

Wohnen sei ein Menschenrecht und keine Ware für "Spekulanten", argumentiert die Initiative, die sich von einer "Vergesellschaftung" bezahlbare Mieten auf Dauer für alle erhofft. Der Vorstoß zielt vor allem auf den Konzern Deutsche Wohnen ab, der in Berlin rund 112 000 Wohnungen besitzt und wegen seines Umgang mit Mietern häufig in der Kritik steht. Die Initiatoren sammelten bereits am ersten Tag zahlreiche Unterschriften. Nach ihrem Willen würden alle profitorientierte Unternehmen, die in Berlin mehr als 3000 Wohnungen in ihrem Bestand haben, von der Vergesellschaftung erfasst.

Zur Zahl der Demonstranten in Berlin wollte die Polizei keine konkrete Teilnehmerzahl nennen, sprach aber von einer Größenordnung "weit über 10 000". Die Veranstalter nannten die Zahl von 40 000 Demonstranten, Beobachter schätzten sie auf etwa 20 000. 450 Polizisten waren im Einsatz.

Für ganz Deutschland sprach das Protestbündnis von Aktionen in 19 Städten mit 55 000 Menschen. Weitere Demonstrationen und Protestaktionen gab es in Köln, Leipzig, München, Stuttgart, Frankfurt und anderen Städten. Auch in Barcelona gingen mehrere Tausend Menschen auf die Straße.

Die Protestierer forderten günstigere Mieten und einen stärkeren Kampf gegen Spekulationen mit Wohnungen. Auf den Transparenten in Berlin stand unter anderem: "Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn", "Wohnen ist Grundrecht" und "Miethaie raus".

Schon vor Beginn der Demonstration drängten sich die Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz, um an langen Tischen für das Volksbegehren zu unterschreiben. "Man sieht ja, was hier los ist", sagte eine Frau in einer lila Weste der Initiative des Volksbegehrens. "Die Menschen stehen hier Schlange und unterschreiben die ganze Zeit." Ein 50-jähriger Mann meinte nach seiner Unterschrift: "Wir müssen Druck machen auf die Politik. Die hat es ja probiert mit der Mietpreisbremse. Aber das hat ja nicht geklappt."

Berlins Wohnungsbausenatorin Katrin Lompscher (Linke) war ebenfalls unter den Demonstranten, legte aber Wert darauf, dass sie privat dabei gewesen sei, wie sie vom "Tagesspiegel" zitiert wird.

Die Initiatoren des Volksbegehrens haben jetzt sechs Monate Zeit, um für die erste Stufe 20 000 Unterschriften zu sammeln. Das Land Berlin soll die Wohnungen den Firmen zwangsweise abkaufen. Das könnte das hoch verschuldete Land Berlin mehr als 30 Milliarden Euro kosten. Allerdings ist das Volksbegehren für den Berliner Senat rechtlich nicht bindend. Es geht nur um eine Aufforderung, ein Gesetz zur Enteignung zu beschließen.

Vor dem Start des Volksbegehrens hatten Wirtschaftsverbände, Politiker und der Bund der Steuerzahler gewarnt, durch eine Enteignung würde kein neuer Wohnraum entstehen.

Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, forderte eine Milliarde Euro pro Jahr vom Bund, um günstigen Wohnraum zu schaffen. Zudem werde eine wirksame Mietpreisgarantie gebraucht. Bundesbauminister Horst Seehofer (CSU) hat die Wohnungsnot als ein zentrales Problem in Deutschland bezeichnet. Die Bundesregierung habe seit März 2018 mit zahlreichen Maßnahmen gegengesteuert, der Erfolg werde in den nächsten Jahren zu spüren sein, sagte er der "Bild am Sonntag"./rab/iy/rin/DP/fba