Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Nach anderthalb Jahren, in denen die Zinsen mit Ausnahme Chinas und Japans fast überall gestiegen sind, mehren sich nun die Anzeichen dafür, dass die Geldpolitik in den großen Volkswirtschaften getrennte Wege einschlagen könnte. Auf der einen Seite stehen Länder, in denen die Inflation zurückgegangen ist und wo die Geldpolitiker bald aufhören sollten, die Zinsen anzuheben. So gehen die Anleger davon aus, dass die US-Notenbank Fed ihre Zinsen in diesem Jahr nur noch einmal anheben wird, auch wenn deren Vorsitzender Jerome Powell zuletzt andeutete, dass er dies zweimal tun möchte.

Eine zweite Gruppe besteht aus Notenbanken, die trotz einer sinkenden Inflation eine restriktivere Haltung eingenommen haben, wie die Bank of Canada und die Europäische Zentralbank (EZB), die sich von den Daten, die auf eine Rezession in der Eurozone hindeuten, nicht beeindrucken zu lassen scheint.

Schließlich gibt es Zentralbanken, die noch aggressiver handeln, da sich die Inflation nicht bewegt, wie die Reserve Bank of Australia, die schwedische Riksbank und die norwegische Norges Bank. Allen voran fällt in dieses Lager die Bank of England. Sie hob in der vergangenen Woche die Zinsen kräftig an und bestätigte damit die Erwartung des Marktes, dass diese bis auf 6 Prozent steigen dürften, was die vom Immobilienmarkt abhängige britische Wirtschaft gefährden könnte.

So unterschiedliche Ausgangslagen sollten auch unterschiedliche Lösungen erfordern, und so beginnen die Anleger, auf eine Entkopplung der geldpolitischen Kurse zu setzen. In den vergangenen drei Monaten sind die Renditen für zweijährige Staatsanleihen in den USA weit weniger stark gestiegen als in anderen westlichen Ländern, wobei Großbritannien an der Spitze liegt.


   Ein Problemkind bleibt der Dollar 

Im Mittelpunkt der Marktverwerfungen steht der US-Dollar, der einen Teil der übergroßen Stärke, die er während der Pandemie erlangt hat, zu verlieren droht. Der WSJ-Dollar-Index ist im vergangenen Monat um 1,4 Prozent gesunken, was die Auslandserträge US-amerikanischer Unternehmen höher erscheinen und den S&P 500 auf Kosten ausländischer Aktien steigen lässt. Außerdem werden dadurch die US-Exporte gegenüber denen anderer Länder wettbewerbsfähiger.

Aber wird die Divergenz zwischen den Zentralbanken von Dauer sein? Es gibt Gründe, dies zu bezweifeln. Zum einen widerspricht sie dem längerfristigen Trend. In den 1990er Jahren schlossen sich weniger als 60 Prozent der Zentralbanken der Industrieländer dem mehrheitlichen Trend an. In den vergangenen zehn Jahren waren es im Durchschnitt 80 Prozent.

Obwohl die Zentralbanken heute mehr Spielraum bei der Festlegung ihrer Politik haben als in der Bretton-Woods-Ära fester Wechselkurse, bringt der Einfluss des Dollar andere Länder oft dazu, nicht zu sehr abzuweichen. Ein Schlüsselfaktor ist, dass Wirtschaftswachstum und Inflation zunehmend globalisiert sind. Während die Spannungen mit China einige Verbindungen lockern könnten, sind die westlichen Volkswirtschaften weiterhin eng miteinander verzahnt.

Im Moment erscheinen die Unterschiede zwischen den USA und Europa größer, als sie es tatsächlich sind, da sich nach der Pandemie die Ausgaben von Waren auf Dienstleistungen verlagert haben und das verarbeitende Gewerbe in der Eurozone ein größeres Gewicht hat. Auch dürfte sich die ungewöhnlich hohe Verbraucherpreisinflation in Großbritannien der Erzeugerpreisinflation annähern, die im Mai auf 0,5 Prozent sank, nachdem sie ein Jahr zuvor noch 23 Prozent betragen hatte.

Entscheidend ist, dass die Arbeitslosenquoten in allen reichen Ländern niedrig geblieben sind. Allerdings könnten sich die wirtschaftlichen Unterschiede trotzdem vergrößern. Umfragen unter Einkaufsmanagern deuteten zuletzt darauf hin, dass der Dienstleistungssektor in der Eurozone, in Großbritannien, Japan und Australien schwächelt, in den USA jedoch deutlich weniger. Die Währungshüter haben jedoch noch einen weiteren Grund, sich zusammenzuschließen: ihr Gruppendenken.


   Es herrscht unter Währungshütern konformes Denken vor 

Im Jahr 2021 bezeichneten die westlichen Zentralbanker die Inflation fast einhellig als "vorübergehendes" Phänomen, das durch Engpässe bedingt sei. Dann, im Jahr 2022, wurden sie trotz des Krieges in der Ukraine plötzlich extrem kämpferisch und verwiesen auf die Nachfrageseite. Eine so identische Reaktion ist seltsam, nicht zuletzt, weil die fiskalische Großzügigkeit während der Pandemie von Land zu Land sehr unterschiedlich war.

Die Konformität könnte auf den ähnlichen kulturellen und akademischen Hintergrund der westlichen Geldpolitiker zurückzuführen sein. Es ist bezeichnend, dass die Bank von Japan entgegen den Markterwartungen die Konjunkturmaßnahmen beibehalten hat, zumindest bis jetzt. Roger Hallam, globaler Leiter der Zinsabteilung bei Vanguard, weist auch darauf hin, dass das Selbstvertrauen der Zentralbanker beschädigt wurde, als sie mit ihren Prognosen falsch lagen.

Die so entstandene Unsicherheit macht es attraktiver, der Herde zu folgen, denn es ist weniger kostspielig, sich zu irren, wenn andere auch falsch liegen. Die Zentralbanker, insbesondere bei der EZB und der Bank of England, haben sich in letzter Zeit schwergetan, ihre Maßnahmen theoretisch zu rechtfertigen, und haben oft vor Lohn-Preis-Spiralen gewarnt, ohne dass ihre eigenen Untersuchungen dies bestätigten.

Ihr Ruf hängt davon ab, dass sie ein willkürliches Inflationsziel von 2 Prozent erreichen, obwohl die Inflation oft maßgeblich von Faktoren beeinflusst wird, die sich ihrer Kontrolle entziehen.

Die geldpolitischen Experimente nach 2008 waren in umgekehrter Richtung das Gleiche. So verfehlten die Zentralbanken damals kollektiv das Inflationsziel nach unten und ahmten sich gegenseitig mit massiven Programmen zur quantitativen Lockerung nach. Und das passierte, ohne eine einheitliche Vorstellung davon zu haben, wie diese funktionieren.

Was als Allheilmittel angepriesen wurde, hat sich inzwischen als weitgehend unwirksam erwiesen. In Ländern, in denen die Inflation auf 2 Prozent zurückgeht, wie es in der Schweiz bald der Fall sein könnte, ist eine geldpolitische Divergenz weiterhin wahrscheinlich. In den meisten Ländern werden die Anleger jedoch feststellen, dass das Mantra hoher Zinsen für längere Zeit unabhängig von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Bestand haben wird. Zumindest so lange, bis die Zentralbanken kollektiv ihre Meinung ändern.

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June 26, 2023 11:30 ET (15:30 GMT)