Von Asa Fitch

NEW YORK (Dow Jones)--Der fast zwei Jahre andauernde Mangel an Halbleitern, verursacht durch die steigende Nachfrage und pandemiebedingte Störungen der Lieferkette, hatte für die Chipindustrie einen ungeahnten Vorteil: Sie ist nun besser darauf vorbreitet, die durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine verursachten Turbulenzen zu bewältigen, als sie es sonst gewesen wäre.

Die Produktion von wichtigen Rohstoffen für die Chipherstellung konzentriert sich auf Russland und die Ukraine. Die beiden Länder sind eine bedeutende Quelle für Neongas, das für die Beschickung von Lasern benötigt wird, mit denen winzige Schaltkreise auf Silizium gedruckt werden. Ebenso liefern sie das Metall Palladium, das in späteren Fertigungsstufen verwendet wird.

Analysten und Branchenexperten schätzen, dass etwa ein Viertel bis die Hälfte des weltweiten Neons in Halbleiterqualität aus Russland und der Ukraine kommt. Aus Russland stammt zudem ein Drittel des Palladiums. Eine potenzielle Verknappung dieser Materialien hat bei einigen Analysten die Sorge geweckt, dass eine Branche, die bereits mit der hohen Nachfrage zu kämpfen hat, nun auch noch ihre Produktion einschränken muss.


   Neuausrichtung der Prozesse, stärkere Lieferketten 

Diese Befürchtungen dürften sich nicht bewahrheiten, zumindest nicht in nächster Zeit. Das liegt zum Teil daran, dass die Branche ihre Prozesse neu ausgerichtet hat, nachdem sie durch die extreme Nachfrage und wiederholte Probleme aufgerüttelt wurde. Dazu zählen Brände in Chipfabriken, Stromausfälle infolge einer Kältewelle in Texas, Wassermangel wegen einer Dürre in Taiwan und andere Rückschläge.

Die Unternehmen haben ihre Lieferketten inmitten des Umbruchs gestärkt und in einigen Fällen alternative Lieferanten hinzugenommen, um auf mehr Optionen zurückgreifen zu können. Sie haben sich mit Neon und anderen wichtigen Materialien für die Chipherstellung eingedeckt und verfügen nun in der Regel über eine Reserve von sechs Wochen bis drei Monaten, so Mark Thirsk, geschäftsführender Gesellschafter von Linx Consulting in Massachusetts, einem Beratungsunternehmen für elektronische Materialien.

Taiwan Semiconductor Manufacturing (TSMC), der weltgrößte Auftragsfertiger von Chips, verlegte sich bereits auf eine alternative Versorgung mit Neon, als Russland seine Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenze aufstellte und ein Konflikt drohte, so eine mit Internas vertraute Person. TSMC rechne nun nicht mehr mit Lieferproblemen.

Infineon Technologies, ein großer deutscher Chiphersteller, der die vom Chipmangel besonders betroffene Autoindustrie beliefert, teilte mit, dass man keine Auswirkungen auf die Produktion erwarte und dass Lieferoptionen vorhanden seien. "Infineon hat seine Lagerbestände an potenziell betroffenen Rohstoffen und Edelgasen, zu denen auch Neon gehört, aufgestockt", sagte eine Sprecherin des Unternehmens.

Die Chipindustrie rechnet im Allgemeinen nicht mit großen Problemen. "Wäre dies vor zehn Jahren passiert, hätten wir wohl viel mehr Bauchschmerzen als heute", sagt Jimmy Goodrich, Vizepräsident für globale Politik bei der Semiconductor Industry Association, einem in Washington, D.C., ansässigen Industrieverband.


   Aus der Krim-Annexion gelernt 

Für die Chip-Unternehmen war Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 eine frühe Lektion im Umgang mit politischen Unsicherheiten in der Region. Die Preise für Neon stiegen, und die Chiphersteller schauten sich um nach anderen Gasquellen.

Während der Corona-Pandemie bemühten sich die Unternehmen, ihre kritischen Lieferungen inmitten globaler logistischer Unterbrechungen zu sichern. Dann, Anfang Februar, als der russische Präsident Wladimir Putin Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren ließ, warnte das Weiße Haus vorsorglich die Chiphersteller, dass auf eine Invasion Exportkontrollen und andere Maßnahmen folgen würden. Das berichten zwei mit der Angelegenheit vertraute Personen. Dabei knüpfte die Biden-Administration an die engen Beziehungen an, die sie während der Halbleiter-Krise zu den Chip-Herstellern aufgebaut hatte.

Die US-Sanktionen gegen Russland wurden kurz nach der Invasion verhängt und schränken den Verkauf von Chips und anderen Technologien an die strategischen Industrien Russlands ein. Obwohl die Sanktionen die Chiphersteller nicht dazu zwingen, alle Verkäufe nach Russland einzustellen, haben viele von ihnen dies bereits von sich aus getan, darunter die Marktführer Intel, Nvidia und Advanced Micro Devices.

Für die Chipherteller ist Russland kein wichtiger Markt mehr, sagen Analysten. Obwohl die Unternehmen nach eigenen Angaben gut vorbereitet sind, bedeutet das nicht, dass eine bereits angespannte Branche gänzlich außer Gefahr ist. Nach Schätzungen von Linx Consulting verfügen Chiphersteller und ihre Lieferanten über genug Neon, um die Branche etwa sechs Monate lang am Laufen zu halten.

Danach werden die Preise wahrscheinlich durch die Decke gehen, sagen Analysten. Das sei vergleichbar mit der Zeit, als Russland 2014 die Krim annektierte und den Rohstoff, der zuvor zu 25 Cent pro Liter gehandelt wurde, am Spotmarkt auf fünf US-Dollar pro Liter steigen ließ.

Selbst wenn die Preise um das Zehnfache anziehen sollten, würde Neon nur einen winzigen Bruchteil der Kostenstruktur der Branche ausmachen, so Bernstein-Analystin Stacy Rasgon in einer Notiz. Der Wert der Neonindustrie in Halbleiterqualität wird auf etwa 100 Millionen US-Dollar pro Jahr geschätzt, verglichen mit einem weltweiten Umsatz von über 500 Milliarden US-Dollar mit Chips.

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March 14, 2022 04:41 ET (08:41 GMT)