Brice Berdah hat seinen Traum, mit Mitte 30 in Rente gehen zu können, eigentlich schon begraben.

Dann hat er DeFi entdeckt - Finanzangebote für Besitzer von Kryptowährungen, die Renditen von 20 bis 30 Prozent versprechen. "Mittlerweile habe ich mein Ziel wieder fest vor Augen", sagt der 28-jährige Pariser, der fast sein ganzes Vermögen für solche Transaktionen benutzt. Der Markt für DeFi - Decentralized Finance - ist bislang nur etwas für Freaks, ein Nischenprodukt in der großen neuen Welt der Kryptowährungen. Doch die Beträge, die auf den einschlägigen Plattformen gehandelt werden, sind seit dem Ausbruch der Corona-Krise regelrecht explodiert. Experten warnen vor einer Blase.

Bei Decentralized Finance geht es vereinfacht gesagt darum, traditionelle Finanzprodukte von Banken - Darlehen, Anleihen, Währungstausch - auf die Kryptowelt zu übertragen. Seit März hat sich das Volumen dieser virtuellen Finanzprodukte auf 7,5 Milliarden Dollar versiebenfacht, wie der Branchendienst DeFi Pulse zeigt. Vor allem das Verleihen von Cyberdevisen boomt. Allein auf dieses sogenannte Lending entfallen 3,8 Milliarden Dollar. Nutzer verleihen hier ihre virtuellen Münzen - statt sie in eigens dafür vorgesehenen digitalen Geldbörsen aufzubewahren - und bekommen dafür Zinsen. Der Zinssatz ist im Voraus festgelegt oder wird täglich von Algorithmen via Computer berechnet. Auf speziellen Handels-Plattformen können die so verdienten Coins in echtes Geld umgetauscht werden.

"Bislang ist es nur ein Experiment im Finanzbereich", sagt Anwalt Preston Byrne von der Kanzlei Anderson Kill in New York. "Vielleicht sind nicht alle Transaktionen immer ganz legal, aber das bedeutet nicht, dass das in der Zukunft nicht anders sein wird." Verfechter von Kryptowährungen sind davon überzeugt, dass die DeFi-Angebote das Potenzial haben, die klassische Finanzwelt der Banken auf den Kopf zu stellen. Der normale Sparer verdient schon lange kein Geld mehr nur mit Zinsen, zudem verlangen die Banken in der Regel Geld für ihre Dienstleistungen.

Finanzdienstleistungen über die Blockchain - der Technologie hinter Cyberdevisen wie Bitcoin und Ethereum - sind dagegen ohne eigenes Bankkonto möglich, kostenlos, jederzeit und überall verfügbar und transparent. "Solche Kanäle bieten in der Zukunft womöglich eine Brücke zwischen traditioneller Finanzwelt und offener Blockchain-Welt", prognostizieren die Experten der Krypto-Website Blockchaincenter.com.

Andere Fachleute warnen dagegen vor dem Risiko eines Totalverlusts. Die Kryptowährungsbranche und damit auch die mit ihr verbundenen Finanzdienstleistungen sind unreguliert, immer wieder kommt es zu Hackerangriffen auf die Handels-Plattformen. 2017 erlebten die sogenannten ICOs - in der Krypto-Welt das Pendant zum gewöhnlichen Börsengang eines Unternehmens - einen Höhenflug. Investoren finanzierten auf diesem Weg mit Milliarden fragwürdige Start-ups. Die deutsche Finanzaufsicht BaFin und Kontrollbehörden in anderen Ländern warnten davor, dennoch verloren zahlreiche Anleger ihr Erspartes.

"ALLES GEHT NUR GUT, SOLANGE DIE TECHNIK LÄUFT"

Die meisten Nutzer von Krypto-Lending sind nach Ansicht von Branchenkennern Zocker. Sie leihen sich etwa die Kryptowährung Ethereum, handeln damit andere Cyberdevisen auf verschiedenen Plattformen, zahlen ihre Kredite zurück und sacken erzielte Handelsgewinne ein. "Ich habe ein paar Tausend Dollar in meinem Portfolio und mache das alles zum Spaß - und um neue Technologien kennenzulernen", sagt der 18-jährige IT-Student Antoine Mouran. Manchmal sackt er damit einen Gewinn von 30 Prozent ein.

Das Interesse von Nutzern sei in den vergangenen Monaten "enorm" gestiegen, sagt Stani Kulechov, Gründer der größten Lending-Plattform Aave, über die laut DeFi Pulse ein Volumen von 1,6 Milliarden Dollar abgewickelt wird. Das ganze Segment der DeFi-Finanzprodukte sei in der Lage, sich selbst zu regulieren und brauche keine externe Aufsicht, da es rein von Angebot und Nachfrage bestimmt werde und durch die Blockchain transparent sei. "Das geht aber alles nur gut, solange die Technik läuft."

Dass es auch schiefgehen kann, erlebten im März rund 1200 Investoren auf der Lending-Plattform Maker. In wenigen Sekunden verschwanden ihre virtuellen Positionen, weil der Preis der Kryptowährung Ethereum urplötzlich und ohne ersichtlichen Grund eingebrochen war. Aufsichtsbehörden in einigen Ländern haben in den vergangenen Jahren den Handel mit Kryptowährungen zwar schon zum Teil reguliert, aber sie können kaum mithalten mit den immer neu entstehenden Angeboten.